Naturpop: Der Liebestanz der Anemonen

Nr. 36 –

Das neue Album «Tangerine Reef» der Band Animal Collective ist ein Tauchgang durch ein Korallenriff – oder ein Flug durchs Weltall? Mit Naturromantik hat das jedenfalls nichts zu tun.

Schillern Anemonen wirklich so, oder wurde da digital nachgepinselt? Bei Animal Collective ist die Faszination fürs Rätselhafte schon wieder das dominierende Gefühl. «Tangerine Reef», das elfte Album der Band aus Baltimore, erscheint zusammen mit einem einstündigen Film aus Aufnahmen von Korallenriffen des Künstlerduos Coral Morphologic. Da ist nichts computergeneriert oder künstlich verstärkt, die Bilder von wabernden Meerespflanzen sind nur geloopt und verlangsamt. Alles Natur also? Bei Animal Collective ist das gleichzeitig die Schlüsselfrage.

Zwischen Archaik und Fortschritt

Panda Bear, Avey Tare, Deakin und Geologist, wie sich die Bandmitglieder nennen, trugen bei ihren ersten Konzerten in den frühen nuller Jahren in Brooklyn noch Tiermasken. 2007 erklärte Panda Bear der WOZ, warum sie das nicht mehr tun: «Es gibt diese tierische Seite bei Animal Collective, dieses archaische Element, zugleich ist unsere Musik aber auch sehr urban und futuristisch. Die Bands, die uns beeinflusst haben, waren zu ihrer Blütezeit ebenfalls alles andere als nostalgisch: Can, Pink Floyd, Beach Boys – die blickten alle in die Zukunft, waren von Elektrifizierung und Fortschritt geradezu besessen.» Natur und Elektrifizierung, Archaik und Fortschritt – seit mehr als zwanzig Jahren forschen Animal Collective in diesem Spannungsfeld.

Beispielhaft für dieses kompromisslose Werkeln an einem neuen Sound war das vorletzte Animal-Collective-Album, «Centipede Hz», das bewusst auf der Schmerzgrenze zur Dissonanz seiltänzelte. Das darauf folgende «Painting With» wiederum hatte verhältnismässig klare und eingängige Songstrukturen – wobei, für so eine Aussage würden einem wohl alle PopradiochefInnen glatt den Vogel zeigen.

Das neue Album «Tangerine Reef» nun knüpft an die kontemplative Selbstvergessenheit von frühen Animal-Collective-Alben wie «Sung Tongs» und «Feels» an. Die Lyrics auf «Tangerine Reef» sind beinahe unverständlich. Und die Stimmen der Vokalisten Deakin und Avey Tare mäandern zwischen verstrahltem Naturjodel, schnappatmendem Rhythmusinstrument und quengelndem Kleinkind. Statt den schrummelnden Akustikgitarren von damals wummern jetzt allerdings U-Boot-Bässe. Dazu primitive Trommeln, die sich in der Tiefe verlieren. Alles ertrinkt in einer bedrohlichen Lake aus Elektronik.

Obwohl die Songs kurz sind, verschwimmen sie zu einem Soundtrack. Ein solcher ist dieses Album schliesslich auch, am besten hört man es in einem einzigen Kiemenzug – zum Liebestanz der Anemonen auf Youtube .

Die Bandmitglieder Deakin und Geologist tauchen selbst seit Jahren in Korallenriffen. Geologist, der an Konzerten jeweils mit einer Stirnlampe auf dem Kopf an seiner Elektronik werkelt, arbeitete gar kurze Zeit für einen Unterausschuss des US-amerikanischen Senats zu Ozean, Fischerei und Küstenwache, später studierte er dann Umweltwissenschaften. «Tangerine Reef» ist dem «Internationalen Jahr des Riffs 2018» gewidmet, einer Initiative, die sich weltweit für die Erhaltung der klimawandelsensiblen Korallenriffe einsetzt.

Aber von wegen Naturromantik: Die ozeanischen Blumentiere in «Tangerine Reef» sind mal leuchtende Neonarmbänder im All, mal baumelnde menschliche Glieder in der Strömung. Statt einen einzulullen wie eine Meeresdoku, beginnen die Assoziationen zu tanzen. Als hätten sie Vulven, Penisse, Münder oder Ani, bespritzen sich die Anemonen mit Sekreten. Dieser «Blue Planet» braucht keine altväterliche Erklärstimme – höchstens eine Jugendbeschränkung.

Rousseau geht tauchen

Auch ohne Tiermasken pusten Animal Collective auf «Tangerine Reef» ihrer elektronischen Ästhetik alles Humanistische aus. Statt eine rousseausche Versöhnung ist ihre Rückkehr zur Natur ein Ringeltanz, an dessen Ende uns das verstörende Unbewusste von Mutter Erde angrinst.

Es gibt kein Ausserhalb der Technik mehr, und jeder Blick auf das scheinbar Natürliche fällt auf die eigene Durchtriebenheit zurück. Das ist ungemütlich und anziehend. Plötzlich wirkt alles gekünstelt, genau wie im elektrifizierten Sound dieser animalischen Band.

Suche nach dem Andersweltlichen

Der vierzigjährige Panda Bear, der sonst umarmende Chöre beisteuert, musste bei diesem Album passen. Er widmet sich seinem Soloprojekt und seinen Kindern in Lissabon. Das zeigt, wie Animal Collective den Kollektivgedanken wirklich leben: in fluider Formation und ohne Leader. Vielleicht überrascht die Band deswegen so zuverlässig unsere Hörgewohnheiten.

«Ich glaube, es ist cool, sich daran zu erinnern, dass es da draussen noch Andersweltliches und Unbekanntes zu sehen und zu hören gibt», sagte Avey Tare in einem Interview. Danach zu suchen, ist der musikalische Grundtrieb dieser Band. Deren Sound so künstlich klingt, als hätte er seine eigene Natur entwickelt.

Den Film zum Album gibts auf Youtube .

Animal Collective: Tangerine Reef. Domino. 2018