Liberalismus: «Die rechtliche Emanzipation von Frauen, ArbeiterInnen und Schwarzen wurde nicht an Schreibtischen geboren, sondern in den sozialen Kämpfen der Betroffenen»
Für die Vordenker des Liberalismus waren Freiheitsrechte stets mit Besitzrechten und dem Schutz von Eigentum verknüpft. Hier setzte die Linke im 19. Jahrhundert mit ihrer Kritik an – und dahinter darf sie heute nicht zurückfallen.
Es ist längst ein Gemeinplatz geworden, dass der Rechtsruck die Grundlagen einer liberalen Gesellschaft zu zerstören droht. Gleichstellungspolitik wird als «Genderwahnsinn», die Anerkennung sexueller Identitäten als «Minderheitenquatsch» und die Ächtung rassistischer Begriffe als «Sprech- und Denkverbot» denunziert. Folgt man der Rechten, dann ist es die Mehrheitsgesellschaft, die bedrängt, stigmatisiert und attackiert wird – von Frauen, Transmenschen und Schwarzen.
Diese Diskursverschiebung spiegelt sich auch in der Linken. Die deutsche Politikerin Sahra Wagenknecht schrieb unlängst in einem Meinungsbeitrag, «Weltoffenheit, Antirassismus und Minderheitenschutz sind Wohlfühllabel, um rüde Umverteilung von unten nach oben zu kaschieren», und der Chefdenker ihrer «Aufstehen»-Bewegung, der Berliner Dramaturg Bernd Stegemann, kritisierte, eine postmodern gewendete Linke habe «Hypermoralismus» und «paradoxe Sprachspiele» hervorgebracht (vgl. «Elitär gegen das Establishment» ). Für den Kapitalismus aber, so Stegemann, sei die «offene Gesellschaft nur ein Türöffner, um die sozialen Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates zerstören zu können».
Vor diesem Hintergrund bekennen sich andere Linke plötzlich als Liberale, feiern das bürgerliche Freiheitsverständnis und beziehen sich positiv auf die «offene Gesellschaft» von Karl Popper, immerhin einem Denker, der die linke Frankfurter Schule wegen ihrer grundsätzlichen Gesellschaftskritik und ihres Intellektualismus attackierte.
Man könnte in Anbetracht dieser Diskussionen verzweifeln, denn begrifflich geht eigentlich alles durcheinander, was durcheinandergehen kann.
Reichtum vor Meinungsfreiheit
Was sind die Grundfragen dieses Liberalismus, der heute in aller Munde ist, und warum begann die Linke ihn ursprünglich zu kritisieren? Als Erstes muss man wohl der Vorstellung widersprechen, der Liberalismus sei als Theorie der freien Märkte entstanden. Die wirtschaftspolitische Orientierung des Liberalismus und seine Staatsphobie entwickelten sich erst im 20. Jahrhundert. Ebenso falsch ist des Weiteren die Annahme, der Liberalismus habe entschlossen für die Rechtsgleichheit aller Menschen gekämpft. Wie das Bürgertum im Allgemeinen hatten auch die Vordenker des Liberalismus ein erstaunlich flexibles Verhältnis zu Kolonialismus und Sklaverei, und an die politischen Rechte von Frauen und ArbeiterInnen wurde lange Zeit kaum ein Gedanke verschwendet. Es ist wichtig, das immer wieder zu betonen: Der moderne Staat mit seinem allgemeinen Wahlrecht, seinen sozialen Sicherungssystemen und der rechtlichen Emanzipation von Frauen, ArbeiterInnen und Schwarzen zu BürgerInnen wurde nicht an bürgerlichen Schreibtischen geboren, sondern in den sozialen Kämpfen der Betroffenen. Darin sind im Übrigen auch die Widersprüche im Staat begründet: Seine Gesetze und Institutionen sind Kompromisse, mit denen man den Forderungen der Beherrschten entgegenkam, ohne die Herrschaft als solche zu gefährden.
Wenn der Liberalismus also, anders als gemeinhin angenommen, weder das allgemeine Wahlrecht noch die allgemeinen Bürgerrechte durchgesetzt hat, womit haben sich die Vordenker des Liberalismus dann beschäftigt? Nehmen wir John Lockes 1689 veröffentlichte Schrift «Über die Regierung», die als Meilenstein liberalen Denkens gilt. Sie kreist vor allem um die Frage, wie politische Gemeinschaften entstehen und welche Macht an diese übertragen werden soll. Denn mit dem Entstehen des Staates, der bei Locke noch gar nicht so heisst, wird eine äussere Macht etabliert, die als Souverän über den Individuen thront und über die Einhaltung von Verträgen wacht. Locke begrüsst diese Staatswerdung sehr: Der Einzelne «verzichtet auf die Gleichheit, Freiheit und Exekutivgewalt des Naturzustands» und legt sie «in die Hände der Gesellschaft», um «seine Freiheit und sein Eigentum besser zu erhalten». Zentrale Bedeutung misst Locke dabei dem Schutz des Eigentums bei – ein Anliegen, das verständlicher ist, wenn man berücksichtigt, wie Unbewaffnete in den vorbürgerlichen Gesellschaften von Raubrittern, Adligen und Söldnern terrorisiert wurden. Lockes zweites grosses Thema, das dann auch die Verfassungsgebung in den USA beeinflussen sollte, ist die daran anschliessende Frage, wie diese neue Macht begrenzt werden könne. In diesem Zusammenhang setzt sich der englische Aufklärer mit der Gewaltenteilung zwischen legislativer, exekutiver und föderativer Macht auseinander. Man könnte also sagen: Locke hat theoretische Grundlagen von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung formuliert.
John Stuart Mill veröffentlichte fast 200 Jahre später, nämlich 1859, die Schrift «Über die Freiheit». Darin verweist er auf einen weiteren Aspekt der Herrschaftsbeschränkung. Für Mill, der im Übrigen auch entschieden für Frauenrechte eintrat und immer wieder die Überwindbarkeit von Naturzuständen betonte, geht es um das Recht auf Individualität. Wenn Mill den Mut des Exzentrikers rühmt, sich nicht einfach den herrschenden Moralvorstellungen zu unterwerfen, eigene Werte zu entwickeln und der Autorität Grenzen zu setzen, dann klingt er fast wie ein früher Achtundsechziger. Doch man darf sich nichts vormachen: Auch bei Mill werden Freiheitsrechte selektiv verstanden. So ist er zwar der Ansicht, dass man die Meinung, wonach «Getreidehändler die Armen aushungern oder Eigentum Diebstahl» ist, äussern können muss. Doch diese Meinungsäusserung sollte bestraft werden, wenn jemand vor dem Haus eines Getreidehändlers ein entsprechendes Flugblatt verteilt. Das bürgerliche Recht auf Reichtum kommt auch bei Mill im Ernstfall vor der Meinungsfreiheit und dem Recht auf Essen.
Kritik von links
Wenn man sich das vergegenwärtigt, versteht man, warum sich die entstehende Linke im 19. Jahrhundert vom bürgerlichen Denken distanzierte: Die Vordenker des Liberalismus propagierten Freiheit und Rechtsgleichheit, doch sie verteidigten gleichzeitig gesellschaftliche Machtverhältnisse, die diese Versprechen Makulatur werden liessen. Sicher – die liberalen Positionen haben bis heute einiges für sich. Sie propagieren die Beschränkung herrschaftlicher Macht, verfügen über das Konzept der «checks and balances», also eines Systems gegenseitiger Kontrolle, mit dem der Ausgleich verschiedener Interessen organisiert werden kann. Und sie erkennen, dass das Individuum auch vor der Mehrheit geschützt werden muss. Doch die grundlegenden Machtbeziehungen – die Eigentumsverhältnisse – haben sie immer systematisch ausgeblendet. Das erklärt die inneren Widersprüche vieler bürgerlicher Aufklärer. Wenn sie für Demokratie eintraten, war oft ein Wahlrecht entsprechend der Steuerleistung gemeint. Wenn es um Meinungsfreiheit ging, war und ist bis heute vor allem das Recht des Vermögensbesitzers gemeint, eine Zeitung zu kaufen oder einen Fernsehsender zu gründen. Freiheiten für alle sind gut – solange der Pöbel sie nicht praktisch umsetzen kann.
Im 19. Jahrhundert, als sich die Linke von der bürgerlichen Aufklärung absetzte, ging es also nicht um den Staat oder gar sein Verhältnis zu den Märkten. Die sozialistische Kritik richtete sich gegen den Idealismus des bürgerlichen Denkens. Die radikalsten Liberalen jener Zeit kritisierten die Religion und forderten Meinungsfreiheit. Marx teilte ihre Kritik, betonte jedoch, dass Herrschaftsverhältnisse nicht von Religion oder Moral herrühren, sondern von der ungleichen Verteilung des Eigentums. Und er zeigte dabei auf, dass das Bürgertum die Unfreiheit der SklavInnen und ArbeiterInnen als gegeben oder «privat» hinnimmt und dadurch die Macht der Herrschaft stetig vergrössert. Die marxsche Kritik richtete sich also nie gegen die liberalen Freiheits-, Gleichheits- und Individualismusversprechen, sondern wies darauf hin, dass diese Versprechen in einer bürgerlichen Gesellschaft unerfüllt bleiben müssen.
An diesem Grundproblem hat sich bis heute nichts geändert: ArbeiterInnen, Frauen und Schwarze sind zu Rechtssubjekten geworden und haben sich Anerkennung erkämpft. Doch die «freie» Eigentumsordnung sorgt auch heute noch dafür, dass die Unternehmer und Superreichen, die Managerinnen und Banker ihre Interessen viel besser geltend machen können als alle anderen (die im Durchschnitt auch weiterhin öfter weiblich und nicht weiss sind).
Liberalismuskritik von links unterscheidet sich deshalb radikal vom rechten Antiliberalismus. Die Linke will die liberalen Freiheitsversprechen nicht zurückdrängen, sondern realisieren und wirft dem Liberalismus vor, in der Sache der Emanzipation auf halber Strecke haltzumachen. Für den rechten Antiliberalismus hingegen geht es darum, die Ansprüche und Freiheiten der Unterdrückten zurückzudrehen – zugunsten des autoritären Staates, des «Volkes», der Weissen und der Männer.
Was aber bedeutet das für die Diskussion von heute? Die Frage, ob es den neuen sozialen Bewegungen seit 1968 an Materialismus mangelte, stellt sich durchaus. Nach der Abwicklung der DDR gab es einen schönen Witz über die unterschiedlichen Prioritäten der Gleichstellungspolitik: «Im Sozialismus sagten die Frauen, ich bin Traktorist. Nach dem Anschluss an die BRD sagen sie: Ich war Traktoristin.» Der Hinweis, dass die Emanzipationsbewegungen der Gegenwart den Auseinandersetzungen um symbolische Anerkennung und Sprache zu viel, den Kämpfen um materielle, sprich: die Lebensweise betreffende Rechte zu wenig Beachtung schenken, hat etwas für sich. Natürlich stimmt andererseits auch, dass mit Sprache Macht ausgeübt wird. Aber für das Leben von Unterdrückten bedeutender als die verletzenden Worte ist die Tatsache, dass Unterdrückte in der Regel in trostloseren Wohnungen leben, schlechtere Jobs haben und früher sterben. Oder allgemeiner (was dann auch sexuelle Identitäten und Orientierungen betrifft): dass sie – ganz materiell – nicht frei über ihren Körper und ihr Leben entscheiden können.
Die Linke darf nicht hinter ihre Kritik am Liberalismus zurück. Wenn sie so nervig von «bürgerlichen Gesellschaften» und «bürgerlichen Medien» spricht, dann ist damit gemeint, dass zugrunde liegende Machtstrukturen systematisch ausgeblendet werden. In der liberalen Gesellschaft ist es hoch angesehen, für die Rechtsgleichheit der Individuen einzutreten; hingegen ist es verpönt, auf die Herrschaft der Besitzenden über die Besitzlosen hinzuweisen. Doch Demokratie bleibt eine Farce, solange sich das Eigentum (nicht am eigenen Häuschen, sondern am Kapital) in den Händen einer gesellschaftlichen Gruppe konzentriert. Und auch die bewussteste, korrekteste Sprache nützt nicht, wenn man aus ökonomischen Gründen keine gleichberechtigte Teilhabe hat.
Die Kritik, dass der Neoliberalismus die Erweiterung individueller Freiheitsrechte in den letzten dreissig Jahren duldete oder sogar unterstützte, um sie gleichzeitig materiell zu zerstören, ist völlig richtig. Aber das Problem ist nicht, dass die symbolische Anerkennung von Frauen oder Schwarzen überflüssig gewesen wäre, sondern dass sie ohne materielle Grundlagen nicht viel wert ist. So hat der neoliberale Staat in den USA zum Beispiel AfroamerikanerInnen symbolisch als BürgerInnen anerkannt, andererseits aber durch die Privatisierung der Bildungssysteme erneut ausgeschlossen. Und die «harten» Institutionen Polizei und Justiz sorgen sowieso für eine ganz eigene, materielle Wirklichkeit: Schwarze Männer werden straflos abgeknallt oder massenhaft zur Zwangsarbeit in Gefängnisse gesteckt. In Abgrenzung zum rechten Antiliberalismus ist völlig klar, was Linke vertreten müssten: Es gibt nicht zu viel Gleichstellungs- und Anerkennungspolitik, sondern diese war zu rhetorisch und zu wenig materiell.
Linke wollen keinen «starken Staat»
Zu guter Letzt muss man auch die ökonomischen Debatten um Staat und Markt zurechtrücken, auch wenn die mit dem klassischen Liberalismus gar nicht so viel zu tun haben. Die verbreitete These lautet, der Neoliberalismus wolle den Staat abschaffen und eine reine Herrschaft der Märkte errichten. Es mag sein, dass das in manchem neoliberalen Pamphlet steht, doch die Praxis sieht ganz anders aus: Der schnelle Anstieg der US-Staatsschulden begann 1980 just unter Ronald Reagan, einem der Pioniere neoliberaler Politik, und war Folge der engen Verzahnung von Konzerninteressen (vor allem des Rüstungs- und Finanzsektors) mit dem Staat. Die Neoliberalen wollten nicht «den Staat» abschaffen, sondern nur die sozialen Sicherungssysteme, die auf Druck der unteren Klassen in den Staat eingeschrieben worden waren.
Die Finanzkrise ab 2007 hat das erneut unter Beweis gestellt. Neoliberale lieben den Staat – wenn er Konzerne rettet, Gemeineigentum privatisiert oder Proteste niederhält. Auch hier muss die Antwort also differenzierter ausfallen: Linke wollen keinen «starken Staat», sondern den Ausbau sozialer und demokratischer Rechte – und zwar individuell und kollektiv.