Liberalismus: Die Freiheit des Geldes

Nr. 36 –

Was ist unter «liberal» zu verstehen? Der italienische Philosoph Domenico Losurdo liefert in seinem Buch «Freiheit als Privileg» überraschende Antworten.


Privatisierung, Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt, Steuersenkungen für Grossunternehmen: Mit diesen Massnahmen identifizieren Wirtschaftsorganisationen wie der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Europäische Kommission oder marktfreundliche Thinkthanks wie Avenir Suisse liberale Prinzipien. Der hartnäckige Glaube, der sich hinter diesen politischen Empfehlungen verbirgt, sieht in der Begrenzung staatlicher Eingriffe in das Marktgeschehen das Allheilmittel für wirtschaftliche Prosperität und gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Ganz im Sinn der liberalen Tradition soll der Staat nicht in die individuelle Freiheit eingreifen – und dabei insbesondere das Privateigentum garantieren. Was – wie sich bei John Locke, Adam Smith, aber auch Friedrich August von Hayek oder Max Becker nachlesen lässt – so viel bedeutet wie die Gleichsetzung von Besteuerung mit Diebstahl. Diese «liberale» Medizin soll zudem die von Ratingagenturen zum drohenden Bankrott verurteilten Piigs-Staaten (Portugal, Irland, Italien, Griechenland, Spanien) wieder auf Vordermann bringen und die kreditwürdigen Länder in die ersehnte Wachstumsspirale treiben.

An diesen Rezepten befremdet nicht nur das ihnen zugrunde liegende Denken, das die wirtschaftliche Katastrophe ja erst herbeigeführt hat, sondern auch die wiederkehrende Gleichsetzung von ökonomischen Strukturanpassungsprogrammen mit den Prinzipien des politischen Liberalismus – Lockerung des Arbeitsrechts, Schonung der Grossunternehmen, Beschneidung des Sozialstaates und so weiter.

Die Wurzeln des Liberalismus

Aber was bedeutet in dieser Auslegung «Liberalismus»? Schutz der individuellen Freiheit und Entfaltungsmöglichkeit oder Verteidigung des wie auch immer angehäuften Privateigentums? Einlösung des emanzipatorischen Versprechens der liberalen Aufklärer oder Konservierung ökonomischer Macht?

Hier hilft Domenico Losurdos Buch. Der in Urbino lehrende Philosoph skizziert darin die These, dass die liberale Freiheit seit ihrer Geburtsstunde nur die Freiheit einer privilegierten Klasse war, neben der die Unfreiheit der armen Klassen unbekümmert existierte.

In einem flüssigen und gut verständlichen Stil zeichnet er eine politische Idee nach, die im Namen der Freiheit und der Anhäufung von Reichtum vor allem die feudalen und monarchischen Zwänge durchbrach und im Namen der Gleichheit die Privilegien des Adels beseitigte. Die liberalen Grundwerte der Freiheit, Gleichheit und Emanzipation galten jedoch nur für die Reichen und Besitzenden. Für jene also, die über Eigentum verfügten und somit zur Sicherung ihrer Existenz keiner Arbeit nachgehen mussten.

Zum Eigentum gehören in dieser frühliberalen Phase auch die Sklaven. Eine Situation, die dem protestantischen Bewusstsein mancher Liberalen zunehmend aufstösst und so zu ersten Spaltungen innerhalb der liberalen Grossfamilie führt.

Eine aus diesem Bruch entstehende Fraktion bilden die Radikalen. Als Erste beharren sie auf den politischen Verpflichtungen und Versprechen des Liberalismus. Wenn schon Freiheit, Emanzipation und Gleichheit – dann für alle! Und das bedeutet: Die politischen und ökonomischen Strukturen sind so umzumodeln, dass auch wirklich alle befähigt werden, frei über sich selber verfügen zu können und gleich behandelt zu werden. In dieser Tradition des Radikalismus lassen sich auch Karl Marx und Friedrich Engels positionieren, die den Liberalismus mit ihrer Forderung nach der tatsächlichen Realisierung seiner politischen Versprechen um die soziale Komponente erweitern und somit die konsequenteren Liberalen sind als die gemeinhin unter dieser Rubrik versammelten Locke, Smith, Jeremy Bentham, John Stuart Mill, Alexis de Tocqueville oder Benjamin Constant.

Die Doppelzüngigkeit der Liberalen

Losurdo zeigt zudem auf, wie die ehrwürdigen Werte des Liberalismus von der politischen Sphäre in die ökonomische transponiert wurden, um sie hier denjenigen zu gewähren, die im ökonomischen Machtspiel die Trümpfe in der Hand hielten. Bei dieser Verlagerung von der Politik in die Ökonomie kommt es zwangsläufig zur Farce. Liberale Werte werden ihrer Inhalte entleert oder je nach Lage wieder neu gefüllt.

Im liberalen Kampf gegen die monarchischen Kontrollapparate und zur Wahrung der eigenen Reichtümer verlangten schon die ersten Liberalen im Namen der Freiheit den Rückzug des Staates aus der Sphäre des Marktes. Die Inkonsequenz gegenüber diesem urliberalen Prinzip macht sich jedoch dann bemerkbar, wenn die eigenen ökonomischen Privilegien von ArbeiterInnenkoalitionen bedroht werden oder wenn es um die profitsteigernde Liberalisierung des Arbeitsmarktes und die «Lockerung» des Arbeitsrechts geht. Bei dieser Gelegenheit waren und sind die Liberalen schnell wieder Etatisten, die verzweifelt nach dem Staat rufen, damit dieser ihren Reichtum verteidigt, rettet oder gar finanziert.

Auch die Geschichte des Liberalismus, wie sie von ihren eigenen Protagonisten früher und auch heute noch erzählt wird, entspricht in den Worten Losurdos letztlich einer heuchlerischen Hagiografie – einer Heiligengeschichte, bevölkert von privilegierten und arrivierten Theoretikern, Politikerinnen und Unternehmern, die sich selber zelebrieren. Und die, sofern sie den Blick nicht von der von Armut und Ungleichheit gekennzeichneten Realität abwenden, diese mit rassistischen Erklärungen (Locke, Tocqueville, Benjamin Franklin), Faulheitsbeschuldigungen gegenüber Armen (Locke, Smith, Bentham) oder einfach mit der These der Unantastbarkeit und Unschuld des Marktes (Smith, Hayek, Milton Friedman) legitimieren.

Zwar sind die rassistischen Rechtfertigungen heute weitgehend verschwunden, dafür aber die Argumente zugunsten der Leistung stärker geworden. Dass Leistung sich wieder lohnen soll, wird gegenwärtig nicht nur von liberalen PolitikerInnen vermeldet, sondern hat sich tief ins kollektive Bewusstsein eingebrannt. Paradox genug, weil ausgerechnet der Übervater der Neoliberalen, Friedrich August von Hayek, dieses Argument vollkommen lächerlich fand. Seiner Meinung nach ist der Markt völlig blind für moralische Belange und funktioniert nur nach den Prinzipien von Angebot und Nachfrage. Um aber eine neoliberale Politik mit ihren Angriffen auf den Sozialstaat, den Arbeitsmarkt und die von links vorgebrachte Forderung nach steuerlicher Umverteilung durchzusetzen, wird dieses Argument heute wieder medienwirksam und politisch gewinnbringend verwendet und mit dem symbolischen Vatermord vereinigt.

Die Verteidigung des Liberalismus

Dass der Liberalismus auf seinem Weg zur vorherrschenden Regierungsform also Wasser predigt und Wein trinkt, wird vom italienischen Philosophen eindrücklich gezeigt. Losurdo möchte jedoch nicht den Liberalismus als solchen verteufeln, sondern, wie schon Marx, auf die allgemeine Realisierung seiner Versprechen pochen. Erst wenn jeder Mensch frei von Zwängen ist, die er sich nicht selber auferlegt hat, lässt sich von liberaler Freiheit und geglückter Emanzipation sprechen. Und erst dann verdient eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung auch das Prädikat «liberal».

Leider endet Losurdos Analyse nach über 400 Seiten mit der historischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Die Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg, das Aufkommen des keynesianischen Systems und des Thatcherismus samt neoliberaler Durchsetzung einer neuen Weltwirtschaftsordnung erörtert Losurdo nicht. Dennoch bietet sich Losurdos «Freiheit als Privileg» für eine kritische Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Transformationen des Liberalismus an. Will man nämlich die aktuellen Auswüchse verstehen, ist es von Vorteil, auf seine Wurzeln zu blicken.

Domenico Losurdo: Freiheit als Privileg. Eine Gegengeschichte des Liberalismus. Aus dem Italienischen von Hermann Kopp. PapyRossa. Köln 2010. 464 Seiten, Fr. 40.10