Brasiliens Linke: Lulas hartnäckiges Schweigen
Expräsident Lula da Silva ist zurück auf der politischen Bühne, nachdem Urteile gegen ihn annulliert wurden. Bei der Wahl 2022 könnte er Machthaber Jair Bolsonaro herausfordern – doch seine Rückkehr stellt die Linke vor ein Dilemma.
Man hätte meinen können, der Heiland sei zurückgekehrt und feiere seinen ersten Gottesdienst in der Zentrale der brasilianischen MetallarbeiterInnengewerkschaft in São Bernardo do Campo, einem wichtigen Standort der Schwerindustrie. Vor Hunderten AnhängerInnen sprach Brasiliens Expräsident Lula da Silva mit heiserer Stimme darüber, wie er jahrelang von der Justiz zu Unrecht verfolgt und eingesperrt worden sei; dass er aber nie am Sieg der Gerechtigkeit und der Wahrheit gezweifelt habe. Vor seinem Rednerpult hing ein rotes Tuch, das Lulas Antlitz zeigte. Drumherum das Wort «frei» in 22 Sprachen.
Lula ist zurück auf der politischen Bühne Brasiliens. Das Comeback des Expräsidenten (2003–2011) sandte vergangene Woche kleine Schockwellen durchs Land. Was die Linke wie ein quasireligiöses Ereignis feierte, löste bei Brasiliens Rechten Ungläubigkeit und Protest aus. Was war geschehen?
Kein Freispruch
Der Verfassungsrichter Edson Fachin hatte in einer monokratischen Entscheidung überraschend alle Urteile gegen Lula wegen Korruption annulliert und damit auch dessen politische Rechte wiederhergestellt. Sollte das Urteil Bestand haben – es kann immer noch von einem Richterplenum gekippt werden –, dürfte Lula bei der Präsidentschaftswahl 2022 für die linke Arbeiterpartei (PT) gegen Jair Bolsonaro antreten. Laut Umfragen hätte er unter allen möglichen Konkurrenten die besten Chancen, den ultrarechten Amtsinhaber zu schlagen.
Lulas AnhängerInnen feierten Fachins Urteil wie einen Freispruch. Aber das war es nicht. Vielmehr stellte der Richter einen schweren Verfahrensfehler fest. Mehrere Jahre lang war gegen Lula wegen Korruption ermittelt worden. Unter anderem soll die Baufirma OAS im Gegenzug für politische Gefälligkeiten für ihn eine Maisonettewohnung renoviert haben. Die Ermittlungen gegen Lula leitete eine Taskforce junger StaatsanwältInnen aus der Stadt Curitiba. Sie war ursprünglich gegründet worden, um den gigantischen Korruptionsskandal rund um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras aufzudecken, bei dem während der Regierungszeit des PT mehrere Milliarden US-Dollar Schmiergeld geflossen waren. Diese Untersuchungen wurden unter dem Namen «Lava Jato» (Autowaschanlage) weltbekannt.
Nach einem umstrittenen Verfahren – Lula konnte der Besitz der Wohnung nie nachgewiesen werden – verurteilte ihn der Richter Sérgio Moro schliesslich zu einer langen Haftstrafe. Fachin stellte nun fest, dass weder die Taskforce aus Curitiba noch Richter Moro für den Fall Lula zuständig gewesen wäre, weil ihre Kompetenzen einzig den Petrobras-Skandal betrafen.
Eloquent wie in seinen besten Tagen
Schon während der Ermittlungen war auffällig, wie eifrig und hastig die StaatsanwältInnen und Moro agierten. Kritische BeobachterInnen vermuteten, dass sie Lula unbedingt vor der Präsidentschaftswahl 2018 aus dem Verkehr ziehen wollten. Der Verdacht fand weitere Nahrung, als Nachrichten auftauchten, die bewiesen, dass die StaatsanwältInnen und Moro sich absprachen und regelrecht konspirierten, um Lula hinter Gitter zu bringen. Ohne seine Beteiligung gewann dann Jair Bolsonaro die Wahl und machte Moro zum Justizminister. Lula wiederum wurde 2019 vorläufig aus der Haft entlassen, weil ihm immer noch der Weg vor den Obersten Gerichtshof offenstand.
Es gilt nun als wahrscheinlich, dass Lula nächstes Jahr für die Arbeiterpartei als Präsidentschaftskandidat ins Rennen geht. Die Rede, die Lula vor den MetallgewerkschafterInnen hielt (er war einst Chef der Gewerkschaft), hatte den Ton einer Wahlkampfrede, auch wenn er es vermied, sich schon als Kandidaten zu präsentieren. «2022 wird diskutiert, ob der PT einen Kandidaten aufstellt oder ob es ein breites Bündnis gibt», sagte er. Es könnten verschiedene linke Parteien, aber auch Zentrum und Konservative eingebunden werden.
Heftig attackierte Lula den Richter Sérgio Moro, der «die grösste Justizlüge in 500 Jahren Brasilien» zu verantworten habe. Und er griff Bolsonaro als «Angeber» und «unfähig» an: Der Umgang des Präsidenten mit der Coronakrise (Brasilien verzeichnet mittlerweile fast 300 000 Covid-19-Tote) sei eine Katastrophe; seine Absicht, den Waffenbesitz weiter zu liberalisieren, ein Irrweg. «Das Volk braucht keine Waffen», rief Lula, «es braucht Löhne, Bücher und Bildung.» Brasilien sei einmal die sechstgrösste Volkswirtschaft der Welt und hoch respektiert gewesen, sagte Lula in Anspielung auf seine eigene Regierungszeit. «Es gab ein Projekt einer Nation. Und was haben wir heute?»
Lulas Auftritt zeigte zweierlei: Der Expräsident sprüht immer noch vor Energie, er ist so eloquent und charismatisch wie in seinen besten Tagen, und er hält sich offensichtlich nach wie vor für den natürlichen Anführer von Brasiliens Linken. Das ist, zweitens, genau das Problem. Denn es gibt bei der Linken sonst keine Figur, die einen Anspruch auf Führung und Macht formulieren könnte. Es ist niemand in Sicht, der in der Lage wäre, so wie Lula die Sprache der breiten Bevölkerung zu sprechen und die ZuhörerInnen in den Bann zu schlagen; niemand, dem man zutrauen würde, in Lulas grosse Fussstapfen zu treten. Lula selbst wiederum zeigt kein Interesse daran, einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin aufzubauen. «Ich bin 75 Jahre alt», sagte er, «aber ich habe die Energie eines Dreissigjährigen und die Lust eines Zwanzigjährigen.»
Das Leugnen seiner Fehler
Und so ist ihm die Linke nun auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Das birgt enorme Risiken. Denn um die Wahl zu gewinnen, braucht Lula jene rund dreissig Prozent der BrasilianerInnen, die derzeit weder ihm noch Bolsonaro ihre Stimmen geben würden; die Menschen also, die bei der letzten Wahl nicht zur Urne gegangen sind. Wie der PT sie überzeugen will, ist allerdings derzeit nicht zu erkennen.
Denn immer noch leugnen Lula und seine Partei die schweren Fehler, die trotz aller Erfolge bei der Armutsbekämpfung in den Regierungsjahren zwischen 2003 und 2016 begangen wurden: Sie betreffen beispielsweise die Umweltpolitik und den Bau des Megastaudamms Belo Monte im Amazonasbecken oder die Sozialpolitik, bei der zwar zahlreiche Regierungsprogramme geschaffen wurden, aber keine nachhaltigen und gerechteren wirtschaftlichen Strukturen. Auch der intolerante Umgang mit Kritik aus dem eigenen Lager ist eine Schwachstelle des PT. Sie führte zur Gründung und zum Erstarken des kleinen PSOL (Partei Sozialismus und Freiheit), der bei den letzten Kommunalwahlen einige überraschende Erfolge feierte, etwa den Kandidaten bei der Stichwahl um das Bürgermeisteramt in São Paulo stellte.
Das grösste Manko aber ist das hartnäckige Schweigen Lulas zum Petrobras-Korruptionsskandal. Anstatt Fehler zuzugeben, tut Lula so, als habe es den Skandal nie gegeben oder als sei er eine Erfindung seiner GegnerInnen. Das macht ihn und den PT angreifbar. Die Rechte kann nun weiterhin behaupten, Lula und seine Partei seien der Inbegriff von Korruption und Vetternwirtschaft. Gleichzeitig wird deutlich, wie stark Lula in der Vergangenheit verhaftet ist. Es dürfte ihm auch darum gehen, das eigene Erbe zu verteidigen und es noch einmal allen zu zeigen. Brasiliens Linke steht damit vor einem Dilemma: Es geht nicht ohne Lula, aber Modernität und richtige Aufbruchstimmung sehen anders aus.