Kunstzensur in Russland: Die Rückkehr der sowjetischen Deckanklage
Prozesse wie gegen Regisseur Kirill Serebrennikow sind die jüngste Stufe des Repressionsrevivals in Russland: Erst wollten die Orthodoxen die Kunst kontrollieren, jetzt will der Staat die KünstlerInnen selbst unschädlich machen – mit Methoden aus der Sowjetzeit.
Der russische Regisseur Kirill Serebrennikow spielt derzeit die Hauptrolle in einem Gerichtstheater, wie er es selbst perfider nicht hätte inszenieren können. Serebrennikows Fall ist spektakulär, doch in den letzten zwanzig Jahren wurden in Russland immer wieder Prozesse angestrengt, um Kunst und KünstlerInnen in ihre Schranken zu weisen. Dabei wurden die Daumenschrauben schrittweise immer stärker angezogen. Wieso und von wem, zeigt ein Blick zurück.
In den nuller Jahren wurden Kunstprozesse zuvorderst von orthodoxen Organisationen angestrengt. Das erste Verfahren wurde bereits Ende 1998 gegen den Künstler Awdei Ter-Oganjan eröffnet, der auf einer Moskauer Kunstmesse Ikonenschändung auf Bestellung angeboten hatte. Auf Initiative von einzelnen Gläubigen wurde ihm darauf nach Artikel 282 des Strafgesetzbuchs vorgeworfen, er schüre nationalen, rassischen und religiösen Hass. Ein Verfahren mit gleichlautender Anklage folgte zwei Jahre später gegen Oleg Mavromatti, der sich für eine Performance öffentlich an ein Holzkreuz hatte nageln lassen. Beide Künstler flüchteten damals aus Angst vor einer Verurteilung aus Russland.
Die Kirche macht mobil
International Beachtung fanden erst die Prozesse gegen die OrganisatorInnen der beiden Moskauer Ausstellungen «Achtung, Religion!» (2003–2005) und «Verbotene Kunst 2006» (2007–2010). Dieselben KlägerInnen wie gegen Ter-Oganjan und Mavromatti hatten sich nun zu grösseren Gruppen zusammengeschlossen. Ihre Sammelklagen wurden von verschiedenen orthodoxen Organisationen wie dem Volkskonzil und der Volksverteidigung unterstützt und gesteuert. Die Gläubigen wurden dazu aufgefordert, bei der Staatsanwaltschaft die Verurteilung der KuratorInnen zu fordern, weil sie sich von den Kunstwerken in ihren religiösen Gefühlen verletzt sähen.
Es waren einstudierte Gerichtsdramen mit verteilten Rollen und den immer gleichen TeilnehmerInnen. Beide Prozesse endeten mit Geldstrafen für die Angeklagten. Die Klagen hatten zwei Ziele: Erstens versicherte sich hier die Gemeinschaft der Gläubigen ihrer konservativen Werte, zweitens versuchte sie, ihren religiös-konservativen Kunstbegriff als Norm zu etablieren. Mit Erfolg: Die Strafe für das Schüren von religiösem Hass wurde infolge der Prozesse um zwei Jahre Haft erhöht, und auf die «Entweihung von angebeteten Objekten, Zeichen oder Emblemen von weltanschaulicher Bedeutung» steht nun eine Haft- statt einer Geldstrafe.
Pussy Riot in der Kirche
Was Ende der neunziger Jahre als orthodoxe Graswurzelbewegung begann, verwandelte sich bis Anfang der zehner Jahre in einen Kulturkampf um Sichtbarkeit im öffentlichen Raum. Den orthodoxen Organisationen ging es nicht nur um die Kunst, sondern vor allem auch darum, ihren traditionsorientierten Ansichten Gehör zu verschaffen. Durch die Gerichtsprozesse lösten sie zuerst eine öffentliche Debatte aus, um zukünftige Debatten durch weitere so angestossene Gesetzesänderungen kontrollieren zu können. 2013 wurde die «Propaganda von nichttraditionellen Beziehungen gegenüber Minderjährigen», kurz die «Propaganda von Homosexualität», unter Strafe gestellt, und 2014 wurde die Verwendung von Schimpfwörtern in den Medien, in Filmen, im Theater und in der Kunst gesetzlich verboten. Es ist ein sowjetischer Verbotskanon, der hier wiederbelebt wurde. Themen wie Politik, Erotik und Religion können seither nur noch mit Vorsicht behandelt werden, die Folge war künstlerische Selbstzensur.
Nach dieser ersten Welle der Kunstprozesse wurde das juristische Vorgehen gegen missliebige KünstlerInnen deutlich verschärft. Aber auch die Kunst, gegen die vorgegangen wurde, hatte sich geändert. Politische KünstlerInnengruppen wie Woina und Pussy Riot griffen in ihren Aktionen entschieden die Staatsmacht an: Woina drehte 2010 in einer Performance ein Polizeiauto aufs Dach, und Pussy Riot traten 2012 für ihren bekannten Videoclip «Punkgebet» in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau auf, mit Strophen wie «Heilige Jungfrau Maria, vertreib’ Putin» oder «Heilige Jungfrau, werde eine Feministin». Die Mitglieder von Woina wie auch von Pussy Riot wurden in Untersuchungshaft genommen und nach Artikel 213 wegen Störung der öffentlichen Ordnung angeklagt, einmal wegen Hass gegen eine soziale Gruppe (die Polizei), einmal wegen religiösen Hasses. Die Mitglieder von Woina wurden freigesprochen, doch zwei der angeklagten Mitglieder von Pussy Riot mussten eine Freiheitsstrafe verbüssen.
Zusätzlich zu den orthodoxen Organisationen, die den Prozess wie gewohnt zu steuern versuchten, schaltete sich nun auch der Staat ein. Schliesslich hatte Pussy Riot die verfassungsbrüchige Allianz von Präsident Wladimir Putin und Patriarch Kirill kritisiert. Nach den ersten Kunstprozessen nach Artikel 282, in denen es vor allem um die Verletzung religiöser Gefühle ging, kam nun ein zweiter Prozesstyp auf: politisch-aktivistisch orientierte Prozesse nach Artikel 213. Dieser neue Artikel ermöglichte es, religiös-nationalistisch motivierte Anklagen mit der allgemeinen Störung der öffentlichen Ordnung zu koppeln und so zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Für die angeklagten KünstlerInnen bedeutete dies, dass ihnen nun zum ersten Mal seit dem Ende der Sowjetunion wieder Gefängnisstrafen drohten.
Die nächste Stufe im härteren Durchgreifen des Staates gegen unerwünschte KünstlerInnen bekam dann der radikale Aktionskünstler Pjotr Pawlenski zu spüren. Pawlenski, der in seinen Aktionen sprechende Bilder für die Unterdrückung der Bevölkerung durch den Staatsapparat schafft, lebt aktuell als politischer Flüchtling in Paris. In Russland drohte ihm Ende 2016 eine Anklage wegen Körperverletzung und Vergewaltigung. Die Körperverletzung hat Pawlenski zugegeben, doch den Vergewaltigungsvorwurf sieht er als Mittel des Staates, um ihn ausser Landes zu treiben.
Ein solches Vorgehen ist nicht auf die Kunst beschränkt. Der Historiker und Gulag-Forscher Juri Dimitrijew, Regionaldirektor der Menschenrechtsorganisation Memorial in Karelien, wurde zur gleichen Zeit wie Pawlenski unter anderem wegen der Herstellung von Pornografie und unzüchtiger Handlungen gegenüber Minderjährigen angeklagt. Von diesen Vorwürfen wurde er zunächst freigesprochen, doch muss er sich derzeit wegen angeblicher Vergewaltigung erneut vor Gericht verantworten, ebenso wie der Historiker Sergei Koltyrin. Beide haben ihr Lebenswerk den Opfern des stalinistischen Terrors gewidmet. Bis Mitte der zehner Jahre wurde ihre Tätigkeit vom Staat unterstützt. Doch das Klima ist härter geworden, seit sich Institutionen wie Memorial als «ausländische Agenten» registrieren lassen müssen, weil sie internationale Fördermittel erhalten, und Russland sich von einer «fünften Kolonne» umzingelt sieht.
Wie einst in der Sowjetunion
Ob schuldig oder nicht: Hier wird gezielt Rufschädigung betrieben. Ging es in den vorherigen Prozessen immer noch um Kunst, so wird nun mit dem Vorwurf der Vergewaltigung die Integrität der Person angezweifelt. Rufe nach Kunst- und Forschungsfreiheit können so von vornherein abgewehrt werden, internationale Proteste regen sich nur mit Vorbehalt. Hier wird eine typisch sowjetische Deckanklage wiederbelebt, denn unter «Pornografie» und «sexueller Perversion» verstand man in der Sowjetunion ideologieschädliche Einflüsse aus dem Westen und eine kritische Position gegenüber der Sowjetmacht.
Die Deckanklage gegen Serebrennikow wegen Veruntreuung funktioniert ähnlich wie die wegen Vergewaltigung. Doch was hat sich geändert, seit Serebrennikow 2012 das Gogol Center übernommen hat? Unter Präsident Dmitri Medwedew wurde innovative Kunst gezielt mit staatlichen Mitteln gefördert. Kunst sollte «die Ideen der zeitgenössischen Kultur in der russischen Gesellschaft» verbreiten. Wladislaw Surkow, Vertrauensperson Präsident Putins, hatte zahlreiche Künstler zur Zusammenarbeit mit dem Kreml bewegt, wodurch die Bedeutung der Kultur für den Staat und auch die der Kunst zugeschriebene Macht deutlich wurden. Ähnlich wie Dimitrijew konnte Serebrennikow zunächst jahrelang unbehelligt und staatlich finanziert arbeiten.
Mit Beginn der «Ukrainekrise» wandelte sich jedoch die staatliche Kulturpolitik. Kunst begann eine Rolle für die nationale Sicherheitspolitik zu spielen. Kritische zeitgenössische Kunst und alles, was traditionellen Werten widerspricht – etwa Toleranz oder Multikulturalismus –, gilt heute als unerwünscht. Serebrennikow landete auf einer schwarzen Liste mit unliebsamen Kunstschaffenden, nachdem er mit seinem Film «Der die Zeichen liest» (2016) ultrareligiöse Tendenzen in der Gesellschaft thematisiert und in seinem Stück über Rudolf Nurejew Homosexualität prominent behandelt hatte.
Bezeichnend für diese Entwicklung ist auch der Fall des Staatlichen Zentrums für Gegenwartskunst in Moskau. 2016 wurde dieses zunächst der staatlichen Dachorganisation Rosizo einverleibt. Dann wurde der Geschäftsführer Michail Mindlin seines Postens enthoben und nur wenige Tage darauf wegen Veruntreuung von Staatsgeldern angeklagt. Er kam bislang mit einer Bewährungsstrafe davon.
Auf Linie gebracht
Die Prozesse, in denen Zensur mithilfe des Rechts betrieben wird, spiegeln das gesellschaftliche Klima in Russland und wirken gleichzeitig darauf zurück. Zuweilen erinnert die Lage an die sowjetische Tauwetterzeit in den späten fünfziger Jahren, als an die Kulturschaffenden die Direktive ausgegeben wurde, mit dem Westen gleichzuziehen. Diese Phase der Öffnung und Freiheit hielt jedoch gerade mal ein Jahrzehnt an, bevor die KünstlerInnen zurückgepfiffen und erneut auf Linie gebracht wurden.
Nachdem in den neunziger Jahren eine Laissez-faire-Atmosphäre herrschte, die in den ersten Jahren unter Putin von religiösen Gruppierungen eingeschränkt wurde, hat nun der Staat wieder das Zepter der Zensur übernommen. In den früheren Prozessen wurde noch versucht, die Kunst zu kontrollieren. Doch mittlerweile geht es darum, die KünstlerInnen selbst – und mit ihnen alle Andersdenkenden – unschädlich zu machen.
Sandra Frimmel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Slawischen Seminar der Universität Zürich. Ihr Buch «Kunsturteile. Gerichtsprozesse gegen Kunst, Künstler und Kuratoren in Russland seit der Perestroika» (2015) ist im Böhlau-Verlag erschienen.
Im Rahmen der interdisziplinären Ringvorlesung «Kunst & Literatur vor Gericht» spricht Frimmel über «Klagen als Sport: Über das gezielte Anstossen von Gerichtsprozessen»: Donnerstag, 15. November 2018, 18.15 Uhr, Universität Zürich, Raum K02-F-180.