Handwerk und Automatisierung: Verblöden im Schlaraffenland
Verglichen mit der automatisierten Güterproduktion, wird die menschliche Arbeit immer teurer. Damit haben alle zu kämpfen, die handwerklich tätig sein wollen – gerade auch im Lebensmittelbereich. Was tun?
Willkommen in der Nanowelt: Die Menschheit hat die kleinste Dimension beherrschen gelernt. Herkömmliche Güterproduktion ist nicht mehr nötig: Sogenannte Matter Compiler, molekulare 3-D-Drucker, bauen Gebrauchsgegenstände direkt aus Atomen und Molekülen zusammen – Möbel, Kleider, Werkzeuge, aber auch Nahrung. In jedem Haushalt steht ein solches Ding, die Versorgung mit Materie ist gratis und soll die Armen ruhigstellen. In China revoltieren Tausende von BäuerInnen, deren Arbeit überflüssig geworden ist.
Der 1995 erschienene Roman «Diamond Age» des US-Amerikaners Neal Stephenson ist Science-Fiction im Wortsinn: Es geht um die Frage, wohin sich Technik entwickelt und welche Folgen das hat. Was geschieht mit einer Gesellschaft, wenn ein grosser Teil der Arbeit unnötig wird, weil alles, was ein Haushalt braucht, aus dem Automaten ploppt? Auch in der Welt von «Diamond Age» gibt es noch Arbeit, etwa für Schauspielerinnen, Polizistinnen und natürlich Programmierer. Aber die Fertigung von Gegenständen, das Handwerk, ist zum Luxus geworden: Möbel aus echtem Holz, handgewobene Stoffe, handgeschöpftes Papier gelten bei den Reichen als Statussymbole.
Auch ohne «Matter Compiler»: Die Welt entwickelt sich in diese Richtung. Je automatisierter sich Industriegüter herstellen lassen, desto teurer werden im Vergleich alle Wirtschaftsbereiche, die in irgendeiner Form noch auf menschliche Arbeit angewiesen sind. Das gilt besonders für personenbezogene Dienstleistungen wie die Care-Arbeit: Erziehung, Pflege und Betreuung. Der US-Wirtschaftstheoretiker William Baumol hat schon vor mehr als fünfzig Jahren auf dieses Problem hingewiesen – er nannte es «Kostenkrankheit». Die feministische Ökonomin Mascha Madörin stellt die Diagnose in einem Satz: «Man kann immer billiger Smartphones herstellen, aber nicht immer billiger pflegen.»
Die «Kostenkrankheit» befällt längst nicht mehr nur die Care-Arbeit, sondern alle Arbeiten, für die es noch Körper braucht: etwa Landwirtschaft, Handwerk, Kunst und nichtindustrielle Lebensmittelverarbeitung.
Wenig verdienen oder viel verlangen
«Wenn sich Leute an meinem Marktstand empören, die Produkte seien zu teuer, trifft mich das schon», sagt Jann Krättli. «Manche fühlen sich übers Ohr gehauen, wenn es mehr kostet als beim Grossverteiler. Sie wittern gleich Geldmacherei und überlegen sich gar nicht, dass je nach Produktionsweise auch der Aufwand um einiges grösser ist.» Der selbstständige Gemüsebauer bewirtschaftet mit seiner Partnerin einen kleinen, vielfältigen Biohof im Kanton Freiburg. Aus ökologischen Gründen verzichten sie auf viele Maschinen. Auf dem Markt verkauft Krättli Feingemüse, Kräuter, Konfitüren, Sirup und Eingemachtes. «Wir haben uns spezialisiert auf Kulturen, die viel Handarbeit brauchen, wie Schnittsalat, Kräuter und Bohnen.» Denn hier sind sie konkurrenzfähiger als etwa bei Kartoffeln oder Rüebli, die sich maschinell ernten lassen.
Der Vierzigjährige arbeitet 55 Stunden in der Woche und verdient – trotz Direktzahlungen des Bundes – nur etwa 2500 Franken im Monat. «Mit dem Einkommen bin ich zufrieden, ich brauche nicht mehr. Aber ich würde gern etwas weniger arbeiten.» Etwas mehr liesse sich verdienen, wenn er sich stärker spezialisieren würde. Aber die grosse Vielfalt auf dem Hof ist ihm ein Anliegen.
Andrea Nyffeler ist selbstständige Schreinerin bei Bern. Sie entwirft Möbel und Küchen nach den Wünschen ihrer Kundschaft. Dabei verwendet sie wenn immer möglich Schweizer Massivholz. Sie hat einen hohen Anspruch an ihr Handwerk: «Ich mag das Physische an meiner Arbeit, die Arbeitsschritte, wie sich das Material verändert. Ich gebe mich stark in meine Arbeit hinein, auch wenn ich sie für andere mache. Ich habe keinen Bock, Wegwerfprodukte zu produzieren.»
Das Festlegen der Preise beschreibt Nyffeler als schwierig: «Es ist mir ein Anliegen, dass die Leute etwas qualitativ Gutes bekommen, ich möchte sie aber auch nicht ausnehmen.» Oft budgetiert sie den Zeitaufwand knapp: «Wenn ich wirklich auf meinem Stundenansatz beharren würde, würden meine Möbel ein Viertel mehr kosten.» Die 41-Jährige spürt die Konkurrenz von Grossschreinereien, die rationeller arbeiten können und auch einmal einen defizitären Auftrag annehmen, um genug Arbeit für ihre Angestellten zu haben. Auch Anbieter aus dem Ausland drücken die Preise. Über fehlende Kundschaft kann sie trotzdem nicht klagen: «Manche verstehen es als politisches Statement, einen Kleinbetrieb zu unterstützen, der Wert auf Nachhaltigkeit legt. Das sind oft Leute, die gar nicht so viel verdienen. Manche sparen sogar, um sich ein Möbelstück von mir leisten zu können.»
HandwerkerInnen wie Nyffeler und Krättli haben zwei Möglichkeiten, mit dem Preisdruck umzugehen: wenig verdienen oder viel verlangen – also Luxusprodukte für die Reichen herstellen wie die HandwerkerInnen in «Diamond Age». Darauf hat Nyffeler keine Lust: «Ich möchte Nachhaltiges bauen, für alle, nicht nur für die Reichen. Alle auf dem Bau können Geschichten von Dekadenz erzählen. Du arbeitest an einer sehr individuellen und wertvollen Sache, und dann kommt der Bauherr: ‹Das passt mir nicht, nehmt das wieder raus.›»
Jann Krättli hat eine ähnliche Kundschaft wie Andrea Nyffeler: Menschen, die Wert auf Ökologie und Qualität legen. «Es gibt Leute, die sehr wenig verdienen und doch bei uns einkaufen.» Auch ihm ist es wichtig, dass seine Lebensmittel nicht wie Luxusprodukte daherkommen. «Ein halber Liter Sirup für 9.50 ist ergiebiger und letztlich günstiger als eine Flasche Cola.»
Krättli ist zuversichtlich, dass seine Produkte auch noch Absatz finden würden, falls die Lebensmittelpreise infolge Automatisierung oder Marktliberalisierung generell sinken: «Es gibt immer Leute, für die der Preis nicht im Vordergrund steht. Die meisten Kundinnen und Kunden sind gerne bereit, unsere Preise zu zahlen.» Schaut er die ganze Landwirtschaft an, macht ihm die Entwicklung allerdings Sorgen: «Der Preisdruck durch die internationale Konkurrenz ist enorm, die arbeitseffizienteste Methode setzt sich durch – wie generell im Kapitalismus. Eine Kartoffelproduzentin, die an die Migros liefert, hat keinen Spielraum, wenn die Preise sinken.»
Virtuelle Realität und Fastfood
Bald soll sich diese Entwicklung noch verstärken: Die Digitalisierung «verspricht» weitere, radikale Automatisierungsschübe, die nicht nur die Güterproduktion, sondern auch viele Dienstleistungen erfassen werden. «Die Roboter kommen», «Braucht es mich noch?», «In jedem zweiten Job wird der Mensch überflüssig» und ähnliche Schlagzeilen prägen die Diskussion. Digitalisierung ist vor allem eine Drohung: Wehe, wer nicht flexibel genug ist, umzulernen! «Der naturalisierende Diskurs über die Technikentwicklung führt zu tiefer Lähmung», schreibt die Redaktion des Denknetz-Jahrbuchs 2017. «Eine Frage wird kaum gestellt: Wie wollen, können und sollen wir denn eigentlich leben, und welche Technik brauchen wir dazu?»
Ist die Automatisierung ein Segen? Darüber streiten sich Linke schon viel länger, als es Computer und Roboter gibt. Schon Marx hoffte, dass im Kommunismus «die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun». Wenn die Maschinen also für das Notwendige sorgen, können sich die Menschen endlich auf das konzentrieren, was Spass macht?
Der US-Soziologe Richard Sennett, der mit «Handwerk» (2008) das wohl schönste Plädoyer für gute Arbeit geschrieben hat, ist skeptisch. Sennett definiert «handwerkliches Denken» als den «Wunsch, etwas ganz Konkretes um seiner selbst willen gut zu machen». Wie wichtig es ist, das umzusetzen, aber auch wie schwierig, zeigt er an Beispielen von Ziegelbrennen bis Krankenpflege, am Tunnelbau und an der Zubereitung von gefülltem Poulet; es geht sehr konkret um Fernrohre, Hackmesser, Baupläne und die Frage, was schiefgehen kann, wenn ArchitektInnen ihre Gebäude von A bis Z am Computer planen, ohne das Baugelände zu kennen. Sennett ist überzeugt, «dass alle Fertigkeiten, selbst die abstraktesten, mit einer körperlichen Praxis beginnen»: «Wenn Hand und Kopf voneinander getrennt werden, leidet der Kopf.» Und nicht nur für die Kompetenz von Kopf und Hand, auch für die Sinnerfahrung hält er Handwerk für unerlässlich – es halte «zwei emotionale Belohnungen für den Erwerb von Fähigkeiten bereit: eine Verankerung in der greifbaren Realität und Stolz auf die eigene Arbeit».
Vieles deutet darauf hin, dass Sennett recht hat: Menschen brauchen Tätigkeiten, die ihre Fähigkeiten ausbilden und ihrem Leben Sinn geben – und Sinn gibt das Notwendige, nicht nur das rein Vergnügliche. Das Schlaraffenland war eine wichtige Utopie in Zeiten der Not, in der Realität erweist es sich eher als Horrorvorstellung: Wenn Roboter alles Notwendige erledigen, bleiben für die Menschen virtuelle Realitäten und Fastfood. In diesem Schlaraffenland verblödet man.
Wenig, aber gute Güter
Wie organisieren wir Tätigkeiten, die unrentabel, aber notwendig sind? Es könnte hilfreich sein, sich dabei am Bereich zu orientieren, in dem die «Kostenkrankheit» zuerst ausgebrochen ist: an der Care-Arbeit. Die Arbeiten um Pflege, Sorge und Erziehung stossen im Kapitalismus zwangsläufig an Grenzen, weil sie nach einer ganz anderen Logik funktionieren als die profitorientierte Wirtschaft. Das macht Arbeitskämpfe in diesem Bereich so spannend. Man kann zwar die Arbeitsbedingungen in Schulen, Spitälern und Krippen verschlechtern, aber diese Einrichtungen – anders als Textilfabriken – nicht einfach als Ganzes ins Ausland verlagern. Care-Arbeit bleibt lebensnotwendig, egal wie unrentabel sie ist. Die extrem aufwendige Sorge für ein Kind in den ersten Lebensjahren ist nach dem heutigen Verständnis von Wirtschaft keine ökonomische Tätigkeit. Ein Hobby würde sie allerdings auch niemand nennen. Auch die notwendigen, aber unrentablen Arbeiten in Landwirtschaft und Handwerk sind kein Hobby. Könnte es weiterhelfen, sie wie die Care-Arbeit zu betrachten? Die Frage der Finanzierung ist damit nicht gelöst. Trotzdem lohnt es sich, in diese Richtung weiterzudenken.
In Überflussgesellschaften hat der Preis der Dinge immer weniger mit seinem Gebrauchswert zu tun. Viele Dinge, die nützlich und wichtig sind, also einen hohen Gebrauchswert haben – Kartoffeln, Rüebli, Secondhandkleider –, sind billig. Und viele Waren, die sehr viel kosten – Gucci-Taschen, Champagner, Markenparfüm –, haben einen vernachlässigbaren Gebrauchswert. Überfluss entwertet Gegenstände, der Wert betrifft dann weniger das Ding als seine Marke.
Nötig ist eine Güterproduktion, die sich am Gebrauchswert orientiert – vor allem auch aus ökologischen Gründen. Es braucht viel weniger, aber qualitativ gute Waren, die in guter Arbeit hergestellt werden. Das schliesst Hightech und Automatisierung nicht aus, aber es sollte möglich sein zu fragen: Wo ist Automatisierung sinnvoll, wo menschliche Arbeit wichtig? Diese Frage stellt die heutigen ökonomischen Prioritäten infrage, aber dass sie nicht einfach naiv ist, zeigt die Landwirtschaft, in der die verschiedensten Mechanisierungsgrade nebeneinander existieren, von Handarbeit bis Roboter. Und längst nicht immer fahren die Betriebe mit den neusten und teuersten Maschinen am besten, sondern oft jene, die sehr genau überlegen, was sie produzieren und wie sie es absetzen. Mit der solidarischen Landwirtschaft – der direkten Zusammenarbeit zwischen ProduzentInnen und KonsumentInnen – gibt es auch eine Bewegung, die ganz vom Gebrauchswert ausgeht und versucht, die Zwänge des Marktes zu überwinden. «Bei uns leisten die bezahlten Fachkräfte ein Drittel, die Mitglieder unbezahlt zwei Drittel der Arbeit», sagt Tex Tschurtschenthaler, Mitgründer der Genossenschaft Ortoloco im Zürcher Limmattal. «Die unbezahlte Arbeit entspricht fünf Vollzeitstellen. Das gibt uns den Spielraum, so zu wirtschaften, wie wir es für sinnvoll halten, und auch ‹unrentable› Sorten anzubauen.» Die Ortoloco-GenossenschafterInnen tun das zwar in der Freizeit. Aber den meisten ist bewusst, dass es um viel mehr geht als um ein «Hobby».
Es gibt in einer profitorientierten Wirtschaft keine Heilung der «Kostenkrankheit». Aber es gibt immer Tätigkeiten, die weiterzuverfolgen sich lohnt.