Terror in Syrien: Das letzte Fleckchen des IS
Schon bald dürfte der sogenannte Islamische Staat in Syrien militärisch besiegt sein. Umso dringender stellt sich die Frage: Was geschieht nun mit den Menschen in den zurückeroberten Gebieten?
Der Sieg über die Terrororganisation Islamischer Staat (IS) steht kurz bevor – jedenfalls wenn man den markigen Worten des US-Präsidenten Donald Trump Glauben schenkt. Fakt ist: Seit zwei Wochen rücken die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), ein von den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG/J) dominiertes und von der internationalen Anti-IS-Koalition unterstütztes Bündnis, auf die Ortschaft Baghus Fawkani vor – die letzte von den Dschihadisten kontrollierte Enklave in Syrien. Doch bedeutet ein militärischer Sieg über den IS zugleich auch das Ende der Organisation?
Baghus Fawkani befindet sich in der Provinz Deir Essor im Osten Syriens, unmittelbar an der Grenze zum Irak. Nur noch wenige Hundert Quadratmeter Land befinden sich laut Axin Nucan, Kommandantin der YPJ, in der Hand des IS. «Die letzten Gebiete werden in Kürze befreit», sagt Nucan. Die SDF arbeiten sich langsam, aber stetig auf dem Boden vor. Der Druck auf die verbliebenen IS-Kämpfer wird durch US-Angriffe aus der Luft erhöht. Aus dem Osten wird die Koalition ausserdem von den irakisch-schiitischen Milizen des Haschd al-Schabi sowie von französischer Artillerie unterstützt. Westlich des Euphrats steht das syrische Regime. Die Kampagne zur vollständigen Befreiung der Provinz begann bereits im September 2017, seit Mitte Februar läuft die Endphase der Operation.
Laut Angaben von Human Rights Watch (HRW) wurden seit Dezember 2018 etwa 26 000 ZivilistInnen aus den Fängen des IS befreit. «Über die zivilen Opfer der Operation können zurzeit jedoch keine Angaben gemacht werden», sagt Nadim Houry, Direktor der Abteilung für Terrorismusbekämpfung bei HRW. Aufgrund des Chaos auf dem Schlachtfeld sei es unmöglich festzustellen, welche Seite wie viele zivile Opfer zu verantworten habe. Houry kehrte vergangene Woche aus der unter dem Namen Rojava bekannten Demokratischen Region Nordsyrien zurück, wo er die Situation in den Gefängnissen und Flüchtlingslagern beurteilt hat.
Illusionäre Hoffnungen
Bereits in der Vergangenheit hat die Rückeroberung der vom IS kontrollierten Gebiete KommentatorInnen dazu verleitet, über den endgültigen Fall der Organisation zu spekulieren. Dergleichen Hoffnungen dürften sich allerdings als illusionär erweisen. Laut dem Terrorismusforscher Gilbert Ramsay von der schottischen Universität St Andrews ist es zwar möglich, dass eine terroristische Organisation wie der IS aufhört zu existieren – sei es aufgrund militärischer Niederlagen oder weil sie sich vom Terrorismus abwendet. Unabhängig davon könnten aber die von ihr propagierten Ideen durchaus fortleben.
Was den IS in dieser Hinsicht von anderen islamistischen Gruppen unterscheidet, ist sein dschihadistisches Staatsbildungsprojekt – das Kalifat. In diesem sollen die Menschen nach strenger islamischer Gesetzgebung leben. Dank des Machtvakuums, das die US-Invasion im Irak 2003 und der anhaltende Bürgerkrieg in Syrien hinterlassen hatten, war es der Organisation gelungen, grosse Teile Syriens und des Irak zu erobern. Im Juni 2014 rief der IS schliesslich sein Kalifat aus, woraufhin FanatikerInnen aus aller Welt dorthin reisten, um endlich den «wahren Glauben» zu leben.
Dieses Projekt werde die Menschen weiterhin in ihren Bann ziehen, glaubt Ramsay. «Dabei handelt es sich auch um eine Reaktion auf die Unfähigkeit vieler muslimischer Staaten, angemessen auf die Bedürfnisse ihrer Bürger einzugehen.» Denn obwohl in einigen dieser Staaten Wahlen abgehalten werden, ist die politische Teilhabe der BürgerInnen in der Regel äusserst beschränkt. Korruption und Vetternwirtschaft tun ihr Übriges, um demokratische Regungen im Keim zu ersticken. Ausserdem werden weite Teile der Bevölkerung marginalisiert – häufig aus konfessionellen Gründen. So hat auch das Sektierertum im Irak viele SunnitInnen, die unter der schiitischen Regierung Diskriminierung erlebten, in die Nähe des IS getrieben.
Die Bedingungen, die den Aufstieg des IS überhaupt ermöglicht haben, sind also bis heute gegeben. Dazu kommt, dass Trump im Dezember verkündet hat, seine Truppen aus Syrien abzuziehen. Unter diesen Umständen ist eine Rückkehr des IS zu erwarten – in welcher Form auch immer. Zu diesem Schluss kommt übrigens auch ein Bericht des Generalinspektors des Pentagons: «Der überstürzte Abzug der US-Truppen könnte dazu führen, dass der IS in sechs bis zwölf Monaten wiederauflebt und begrenzte Gebiete zurückerobert», heisst es im Papier.
In Rakka, der ehemaligen Hauptstadt des IS in Syrien, haben dschihadistische «Hit and run»-Überfälle seit der Befreiung vor zwei Jahren wieder zugenommen. Im Nordirak werden Dorfälteste sowie Lokalpolitiker, die mit der Regierung in Bagdad zusammenarbeiten, von den Schergen des IS gezielt getötet. In der Stadt Manbidsch an der türkisch-syrischen Grenze starben vor kurzem neunzehn Menschen bei einem IS-Selbstmordanschlag. Diese Beispiele belegen, dass die Terrororganisation ihre Strategie den neuen Umständen angepasst hat. Ihr Ziel ist offenkundig nicht, verlorenes Terrain zurückzuerobern, sondern die Region zu destabilisieren. Zudem wird klar, dass der Terror primär die Menschen vor Ort bedroht – und weniger jene in Europa oder den USA.
Unter Generalverdacht
Anstatt über die endgültige Niederlage des IS zu spekulieren, wäre daher vor allem nach den Menschen in den zurückeroberten Gebieten zu fragen. Die meisten von ihnen befinden sich laut Nadim Houry von Human Rights Watch in Flüchtlingslagern in Nordsyrien, darunter auch die Frauen und Kinder der ausländischen IS-Kämpfer. Diese dürfen sich dort zwar frei bewegen, das Lager aber erst verlassen, wenn ihre Heimatländer sie zurücknehmen.
Dasselbe gilt auch für irakische Staatsangehörige und syrische Binnenflüchtlinge. Sie alle werden verdächtigt, den IS unterstützt zu haben. «Wir müssen verhindern, dass diese Menschen unter Generalverdacht gestellt werden», sagt Houry. Die Verhältnisse in den Lagern seien katastrophal, vor allem wegen der Überbelegung und der ausserordentlichen Kälte. Aufgrund der miserablen medizinischen Versorgung seien seit Jahresbeginn bereits dreissig Kleinkinder gestorben, sagt der HRW-Mitarbeiter.
Am meisten sorgt sich Houry aber um die IrakerInnen, die mit dem Einverständnis der USA in ihre Heimat abgeschoben werden. Ihnen droht dort die Todesstrafe. Während die Autonomiebehörde in Rojava diese abgeschafft hat, erlaubt es das irakische Antiterrorismusgesetz, jegliche Unterstützung des IS mit dem Tod zu bestrafen. Laut Amnesty International sind seit 2017 rund 20 000 mutmassliche IS-Kämpfer im Irak verhaftet worden, mehr als 3000 von ihnen wurden seither zum Tod verurteilt.
Im Gegensatz zum Irak, wo in den Gefängnissen Houry zufolge «zügellos gefoltert wird», ist aus Rojava nichts dergleichen bekannt. Ein grosses Problem sei aber auch hier die Überbelegung. Da die Autonomiebehörde die ausländischen Kämpfer nicht vor Gericht stellen kann und will, befänden sich diese in einer Art juristischem Vakuum, kritisiert er. Einige sässen seit mehr als einem Jahr in Untersuchungshaft. Die vor Ort improvisierten Gerichtshöfe seien zudem sehr rudimentär: «Die Verteidigung der Angeklagten lässt zu wünschen übrig, und eine Möglichkeit auf Berufung gibt es nicht.»
Europa in der Verantwortung
Aus diesem Grund hat die Autonomiebehörde bereits mehrmals verlangt, dass europäische Staaten ihre Kämpfer zurücknehmen und ihnen den Prozess machen. Die meisten Länder Europas, darunter auch die Schweiz, wollen davon aber nichts wissen. «Diese Staaten müssen Verantwortung übernehmen, damit wir das Problem an der Wurzel packen können», sagt SDF-Kommandantin Axin Nucan. Auch Houry findet, dass die internationale Gemeinschaft in der Pflicht steht: Es brauche nicht nur enorme finanzielle Unterstützung für den Wiederaufbau, sondern es müsse auch in Bildung und Demokratisierungsbestrebungen investiert werden.
Obgleich also das gesamte Gebiet des IS zurückerobert werden kann, bleibt die Zukunft der Region ungewiss. In Washington wird über die Errichtung einer Sicherheitszone unter US-Kontrolle – aber ohne US-Truppen – diskutiert. Folglich wären die bereits dort stationierten französischen und britischen Truppen gemeinsam mit privaten US-Sicherheitsfirmen und vielleicht auch der Uno und den SDF für die Sicherheit im Nordosten Syriens verantwortlich. Die USA würden in diesem Szenario den Luftraum überwachen, so die «Washington Post».
Die Türkei fordert dagegen eine sogenannte Pufferzone unter türkischer Aufsicht. Für die Autonomiebehörde kommt das aber nicht infrage. Diese gäbe wohl eher noch dem syrischen Regime den Vorzug, ehe sie eine Lösung akzeptierte, bei der die Türkei ins Spiel käme.