Kost und Logis: Heidi, Greta und die Astrophysik

Nr. 10 –

Ruth Wysseier über Vorbilder und Zukunftsbilder

2039 wird K., meine jüngste Grossnichte, die am 1.  Januar in Vancouver zur Welt gekommen ist, ihren 20.  Geburtstag feiern. Greta Thunberg wird 36 sein. Ob man sich dann noch an das Mädchen mit den Zöpfen erinnert? Ob man sich dann für eine Familienzusammenkunft noch zwölf Stunden in den Flieger setzt? Ob es dann noch Gletscher und Insekten und Erdbeeren im März gibt? Vielleicht trifft man sich künftig nur noch in virtuellen Räumen, isst virtuellen Kuchen und stösst mit einem virtuellen Cüpli an.

Besser als eine Hors-sol-Zukunft gefällt mir die Vorstellung, dass schon bald eine heftige Zurück-zur-Natur-Bewegung beginnt, die Klimakids von heute ihre Insta-Accounts kompostieren und in vergandete Bergtäler oder auf verlassene Jurahügel ziehen. Um K. eine Vorstellung der Naturmythen ihres Mutterlands einzupflanzen, schenke ich ihr ein schönes Heidi-Bilderbuch in Französisch, ihrer Muttersprache. Ihr Vater spricht mit ihr Englisch, seine Eltern Farsi. Ihre Fluchtgeschichte hatte die Familie aus dem Iran nach Deutschland und via die Schweiz schliesslich nach Kanada geführt – ein typisches Globalisierungsschicksal.

Ist Heidi ein sinnvolles Vorbild für ein Kind? Jedenfalls um vieles besser als die Büchlein, die mir zuerst in die Hände fielen: Sie heissen «Mme Bavarde», «Mme en Retard» oder «Mme Prudente», also die Geschwätzige, die ewig zu Späte und die Übervorsichtige. Diese Geschichten hatten sich bis zum Tod ihres Autors Roger Hargreaves in den 1980ern schon 85 Millionen Mal verkauft und werden in allen Sprachen immer wieder neu aufgelegt. Es gehört wohl zu den grossen Rätseln der Menschheit, dass sich solcher Plunder ewig hält.

Über Heidi hatte sich der letzte Filmgrossvater, Bruno Ganz, sehr schön ausgelassen. Es sei die Geschichte über die Menschwerdung eines verschupften Waisenkinds, das durch die Landschaft, die Freundschaft mit dem Hirten, durch die Liebe zu den Ziegen, durch dieses Alleinsein, dieses Nichtbeaufsichtigtsein draussen mit den Tieren, verantwortlich für sich selber, endlich einen Platz zum Atmen und zum Leben entdecke und schliesslich eine Existenz finde.

Wird K. in zwanzig Jahren in einem Dorf weit weg von der Zivilisation leben, Ziegen melken und Schwarzbrot backen? Gibt es in zwanzig Jahren irgendwo auf der Welt noch so einen Ort? Oder wird sie von einem Job auf der Weltraumstation Deep Space Gateway träumen, auf der ab dem Jahr 2030 Menschen die Tiefen des Weltalls erforschen sollen? Um ihr möglichst viele Optionen offenzuhalten, sollte ich ihr das T-Shirt mit der Aufschrift «Oubliez les princesses, je veux être astrophysicienne» schenken und mit ihr zusammen «Geri Gagarin» von Züri West hören.

Sicher gibt es bald schon ein neues Kinderbuch, das nicht mit dem Satz «Vom freundlichen Dorfe Mayenfeld führt ein Fussweg …» beginnt, sondern so: «Von Stockholm fährt ein Zug nach Davos, direkt zu den Alpen hinauf.»

Ruth Wysseier ist Winzerin am Bielersee und wünscht allen eine gute Zukunft.