Scott Walker (1943–2019): Engel in der Unterwelt

Nr. 13 –

Vom Crooner bei den Walker Brothers zum Säulenheiligen der Avantgarde: Noel Scott Engel alias Scott Walker war ein unfassbarer Monolith der Popgeschichte.

Aus dem Titel seines Welthits «The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore» machte er später sein künstlerisches Credo: Scott Walker in der selbstgewählten Finsternis. Foto: Jamie Hawkesworth

Es gibt eine Schlüsselszene im Dokumentarfilm «Scott Walker: 30 Century Man» (2006). Ein sichtlich bewegter Brian Eno hört sich den 1978 veröffentlichten Song «Fat Mama Kick» der Walker Brothers an, um sich dann lautstark und den Tränen nahe zu echauffieren: «Wir sind seither keinen einzigen Schritt weitergekommen! Es ist eine Schande!»

Zu diesem Zeitpunkt ist Scott Walker längst etabliert als Säulenheiliger der kompromisslosen Popavantgarde. Die Karriere des 1943 in Ohio als Noel Scott Engel geborenen Sängers folgt dabei einer ähnlichen Logik wie später diejenige von Mark Hollis, dem im Februar verstorbenen Sänger von Talk Talk: zunächst kommerzieller Erfolg in vermeintlich seichten Popgefilden, gefolgt von einer zunehmend kompromisslosen künstlerischen Haltung und einem weitgehenden Rückzug aus der Öffentlichkeit.

Mehr Fans als die Beatles

Als Teil der Walker Brothers stürmt Walker in den sechziger Jahren die britischen Singlecharts. Mit seinen üppig orchestrierten, von Walkers sonorem Bariton getragenen Balladen – vornehmlich Coverversionen diverser Popstandards – verkörpert das Trio damit auch das Boyband-Prinzip seiner Epoche. Der Fanclub der Walker Brothers zählt zeitweise mehr Mitglieder als derjenige der Beatles, doch auch die härtere Rockmusik nimmt sie zur Kenntnis: Ihre charismatische Bühnenpräsenz inspiriert etwa Robert Plant, den späteren Sänger von Led Zeppelin.

Scott Walkers eigentliche künstlerische Heimat lag jedoch stets woanders, nämlich auf dem europäischen Festland. Nach der Auflösung der Walker Brothers im Jahr 1968 veröffentlicht Walker in kurzem Abstand vier Soloalben, auf denen er die abgründigen Chansons von Jacques Brel einem breiteren Publikum bekannt macht und sich in seinen eigenen Songs mit Albert Camus, Ingmar Bergman und der Niederschlagung des Prager Frühlings beschäftigt. Insbesondere das vierte Soloalbum, «Scott 4» (1969), gilt heute als Meisterwerk, ist seinerzeit aber ein Misserfolg. Es folgt eine künstlerische Durststrecke mit einer Reihe heute vergessener Coveralben.

In den späten siebziger Jahren dann die Wende: Nachdem sich Walker zu einem kommerziell erfolgreichen, künstlerisch aber weitgehend belanglosen Comeback der Walker Brothers hat überreden lassen, veröffentlicht er 1978 auf deren letztem Album, «Nite Flights», eine Serie von vier verstörenden Songs, die nicht nur thematisch, sondern auch klanglich weit dunkler und abgründiger daherkommen als alles zuvor. Zeitgleich mit David Bowie und dessen Berlin-Trilogie beginnt Walker, düstere Klanggemälde zu zeichnen, die sich am ehesten irgendwo zwischen experimentellem Art Rock und dem scharfkantigen Postpunk jener Zeit ansiedeln lassen. Im Zuge dessen lösen sich die Walker Brothers definitiv auf; sechs Jahre später folgt noch ein bruchstückhaftes Soloalbum, dann: Stille.

Walker verschwindet weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein, doch zeitgleich steigt sein Stern in Popkreisen. Die Liste an KünstlerInnen, die ihn als Inspiration nennen, liest sich wie ein Who is who der avancierten Popmusik, von Thom Yorke bis Alison Goldfrapp. Vor allem David Bowie, dieser grosse Synthetiker und Plagiarist des Pop, dessen Spätwerk unüberhörbar von Walker geprägt ist, sticht hervor. «Heat», der Schlusssong auf seinem vorletzten Album, «The Next Day» (2013), kann als direkte Hommage an Walker gehört werden.

Als sich Walker selbst 1995 mit dem Album «Tilt» zurückmeldet, hat er sich jedoch auch von diesen vergleichsweise zugänglichen Formen der düsteren Popmusik verabschiedet. Auf seinen letzten vier Studioalben, die er nun in immer kürzeren Abständen veröffentlicht, finden sich albtraumhafte, spärlich instrumentierte Soundscapes, die sich von jeglichen Konventionen des Popsongs entfernt haben und nur noch von seinem klagenden Bariton zusammengehalten werden.

Wie tönt ein totes Schwein?

Befeuert von diesen schwer zugänglichen Werken, kursieren in der Presse vornehmlich Geschichten wie die, dass Walker bei den Aufnahmen zu «The Drift» (2012) seinen Schlagzeuger angewiesen haben soll, wie er eine Schweinehälfte mit den Fäusten zu malträtieren habe. Auf diesen späten Alben hört man aber auch eine oft unterschätzte absurde Note. Bezeichnend dafür ist eine Stelle auf «The Drift»: Der mit Abstand schauderhafteste Moment auf dem ohnehin schon pechschwarzen Album kommt in Form eines unerwarteten Samples eines wütenden Donald Duck.

Nebenbei schreibt er vermehrt Filmmusik, etwa für den Skandalfilm «Pola X» (1999) des französischen Regisseurs Leos Carax und zuletzt für «Vox Lux» (2018) von Brady Corbet. Sein letztes Studioalbum, «Soused» (2014), veröffentlicht Walker zusammen mit der Drone-Metal-Band Sunn O))). Es ist das schiere Spektrum, das ihn zu einer so monolithischen wie unfassbaren Figur der Popgeschichte macht: vom Crooner, der mit «The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore» (1966) die Herzen zum Schmelzen brachte, bis zum kompromisslosen Avantgardisten, der den Titel jenes frühen Welthits konsequent als künstlerisches Credo zu verstehen schien.

Scott Walker war ein Orpheus, der in die Unterwelt hinabstieg und als gänzlich anderer Mensch aus ihr zurückkehrte. Am 25. März ist er mit 76 Jahren gestorben.