Rustin Man: Sternenstaub aus der Scheune
Zum Singen fühlte er sich nie berufen, jetzt hat er doch noch damit angefangen: Paul Webb, einst Bassist bei Talk Talk, macht als Rustin Man verschrobenen Kammerpop, irgendwo zwischen Dub und Karusselljazz.
Was ist das denn? Klingt wie ein altersschwaches Maschinenwesen, das im Dunkel der Nacht nochmals seine riesigen Nüstern bläht, bevor ihm der Schnauf ausgeht. Oder ists ein gigantischer Ventilator? Der Song ist fast sechs Minuten alt, da erwischt uns aus der Tiefe des Raums dieses Geräusch wie von einem monströsen Lüfter, der noch ein paarmal aufdreht, bevor er den Geist aufgibt.
«Night in Evening City» heisst das Stück, ein ausuferndes Unding von über sieben Minuten, das alle paar Takte seine Gestalt wechselt. Fängt an mit Congas in der Echokammer, später trudelt eine elektrische Orgel über einem sachte raunenden Chor durch die Kulissen. Weiter hinten dann: ein Fiepen und Klopfen und Rascheln über schwerem Bass und Glitzerklang, bis diese ganze verhallte Dub-Landschaft schliesslich schnaubend verraucht. Und über allem immer dieser sonderbare, etwas gewöhnungsbedürftige Gesang. Ist das Damon Albarn, vorzeitig gealtert? Oder David Bowie, der aus seinem Grab auf dem Mars oben nochmals die Stimme erhebt?
Blick zurück nach vorn
So singt einer, der sich nie dazu berufen fühlte. Paul Webb (58) war einst in einer der schillerndsten Bands der achtziger Jahre dabei: Talk Talk, eigenwilliger Gesang auch dort schon. Aber gesungen hat damals Mark Hollis; Webb spielte nur Bass und sang manchmal im Hintergrund. Die Zeit mit Talk Talk, sagt er heute, sei längst nur noch eine ferne Erinnerung für ihn. Der Weg aber, den diese Band damals in gerade mal sechs Jahren zurücklegte, wirkt in der Rückschau immer noch atemberaubend: von apartem Elektropop über Megahits wie «Such a Shame» bis zur fragilen, organisch atmenden Kammermusik von «Spirit of Eden» (1988). Nach dem Ende von Talk Talk und zwei Alben mit Schlagzeuger Lee Harris legte sich Webb den Künstlernamen Rustin Man zu und nahm zusammen mit Beth Gibbons von Portishead die bezaubernd verhuschte Platte «Out of Season» (2002) auf. Dann: siebzehn Jahre Stille.
Und jetzt, nur ein Jahr nach seinem Soloalbum «Drift Code», ist schon ein zweites da, es heisst «Clockdust». Staub im Uhrwerk, das klingt nach einer nostalgischen Hinwendung zurück zum mechanischen Zeitalter. Schon das Cover von «Drift Code» zeigte eine Drehorgel, irgendwo an einem Strassenrand, wie bestellt und nicht abgeholt. Aber so eine Drehorgel ist ja keine reine Nostalgiemaschine: Über Lochbänder betrieben, ist sie historisch mit frühen Computersystemen verknüpft, ein vagabundierendes Gefährt unterwegs in die Zukunft der binären Codes. Auch «Clockdust» legt jetzt solche Spuren, wenn auf dem Cover die klassische Avantgarde grüsst. Ein posthumanes Ensemble posiert da in skurrilen geometrischen Kostümen, es sind die Figuren aus Oskar Schlemmers Triadischem Ballett von 1922.
Die Musik von Rustin Man hat oft etwas von einer melancholischen Wanderkapelle. Der Zirkus ist hier nie weit, das Varieté auch nicht. Zum Auftakt mit «Carousel Days» sucht ein sachte torkelndes Piano den Takt, während ein armer Schlucker seiner alten Liebe Rosen bringt, weil das Geld für ein Abendessen nicht gereicht hat. «Gold & Tinsel» ist dann eine unendlich zarte Ballade, garniert mit Lametta und Sternenstaub, der Instrumentaltrack «Rubicon Song» im Herzen des Albums ein atmosphärischer Dub-Irrgarten aus Melodica, Marimbas und den geisterhaften Echos einer Stimme, die unverständliches Zeug von sich gibt. Verstaubt klingt «Clockdust» höchstens manchmal in den Texten, wenn Webb eine etwas altbackene Rotlichtromantik bemüht, in «Jackie’s Room» und «Kinky Living».
Eingespielt hat er diese seltsam durch die Zeit driftenden Songs daheim in seiner umgebauten Scheune beim Flughafen Stansted nördlich von London. Lee Harris ist auch wieder zu hören; ansonsten hat Webb das Album mehr oder weniger im Alleingang aufgenommen, im gleichen Zeitraum wie «Drift Code». Aber man hört auf «Clockdust» keine Restposten, die mal eben rasch nachgereicht würden. Die Stimmungen sind schillernder als noch auf «Drift Code», die Arrangements gewagter und raumgreifender, weniger auf klassische Songstrukturen ausgerichtet. Die Songs beginnen meist sparsam mit Gitarre oder Piano, dann fächert sich die Instrumentierung immer breiter auf, gerne samt Chor und Blaskapelle.
Wie auf dem Karussell
Auch wenn das alles nicht direkt an die späteren Talk Talk erinnert, so nähert sich Webb auf Umwegen doch den Pfaden seines einstigen Bandkollegen. Mark Hollis hatte sich bis zu seinem staubzarten Soloalbum von 1998, das sein letztes künstlerisches Lebenszeichen bleiben sollte, zusehends auf eine Art spartanische Opulenz kapriziert: Aussparen als musikalisches Credo. Weglassen? Paul Webb tut als Rustin Man oft das Gegenteil. Das klingt manchmal etwas kurios überfrachtet, wie ein Kammerorchester auf einem sich immer übermütiger drehenden Karussell. Aber in der fragilen Balance, die er dabei erwirkt, nimmt Webb hier durchaus gewisse Fährten von Mark Hollis auf.
Kontakt hatten die beiden schon lange nicht mehr. Hollis starb im Februar 2019, keine vier Wochen nach Erscheinen von Rustin Mans «Drift Code». Man möchte fast metaphysisch werden.
Rustin Man: Clockdust. Domino/Irascible. 2020