StreamerInnen: In der Welt der digitalen Alleinunterhalter
Sie spielen täglich stundenlang vor der Kamera Games und unterhalten damit Millionen. Doch nur wenige können davon leben. Dafür nehmen die StreamerInnen prekäre Arbeitsbedingungen in Kauf und setzen sich mitunter auch Drohungen und Schabernack aus.
Quentin Martinez’ Arbeitstag beginnt um Punkt halb neun Uhr morgens. Im kleinen Büro seiner Wohnung in einer Gemeinde am Genfersee schaltet er die beiden Computer an, richtet das Mikrofon ein, stellt sich vor die Kamera und setzt seine Kopfhörer auf. Sobald er mit allem zufrieden ist, fängt seine Sendung an. Seine Stimme ist tief und weich, immer wieder streut er englische Sätze ein. Doch Martinez macht kein Radio. Die Menschen wollen zuschauen, wie er das Videospiel «World of Warcraft» spielt.
Jeden Tag unterhält er auf der Videostreamingplattform Twitch ein paar Tausend Menschen mit seiner Sendung – auch am Wochenende. Jetzt, am frühen Morgen, begrüsst er energiegeladen einzelne ZuschauerInnen persönlich und tanzt mit seinem gepflegten Hipsterbart zur Musik. So läuft er sich für die nächsten Stunden warm, in denen er fast pausenlos Videospiele spielen und gleichzeitig mit dem Publikum plaudern wird. Im Sekundentakt kommentiert dieses in einem Chat das Geschehen, tauscht sich aus und stellt Fragen. Während er spielt, ist sein Gesicht in einem kleinen Kasten am Rand des Hauptgeschehens eingeblendet; auf der rechten Seite rattert der Chat ununterbrochen.
Anders als bei Youtube, wo fixfertig produzierte Videos dominieren, liegt in diesem Austausch, in dieser unvorhersehbaren Entfaltung der Sendung die ganze Magie. «Vier Fünftel meines Streams macht die Interaktion mit den Zuschauern aus», erklärt Martinez, der sich auf Twitch Tonton nennt. «Ich bin nicht der beste Spieler auf der Welt. Aber mir gelingt es immer wieder, im Spiel Situationen zu finden oder zu kreieren, die beim Zuschauen Spass machen.» Den Rest erledigen sein Humor, seine augenscheinliche Leidenschaft und eine Prise Charme.
Beruf: Vollzeitstreamer
Martinez ist einer von vier Millionen regelmässigen Twitch-StreamerInnen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit spielen sie auf der Plattform Videospiele und unterhalten damit live ein stetig wachsendes Publikum – vornehmlich junge Männer, die selber gamen. Jederzeit schauen im Durchschnitt 1,25 Millionen Menschen einen der etwa 50 000 Kanäle, die jeweils online sind. Sie wollen keine Videos nach Rezept, kein getaktetes Fernsehprogramm, sondern Interaktion und eine Familie. Denn Twitch ist auch eine Wiederbelebung der Zeit, als noch gemeinsam auf dem Sofa gezockt wurde.
Doch manche wollen dort auch Geld verdienen – Martinez ist einer von ihnen. Der 32-jährige Waadtländer arbeitet als einer von wenigen in der Schweiz Vollzeit als Streamer. Seit 2016 experimentierte er in seiner Freizeit und spielte nach Feierabend vor einer Handvoll ZuschauerInnen. Mit der Zeit wuchs sein Publikum. «Irgendwann verdiente ich ein bisschen Geld», erinnert sich Martinez. «Dann fragte ich mich, ob das reicht, um meinen Job zu kündigen, oder ob ich weiter beides nebeneinander machen könnte.» Nach einem halben Jahr merkt er, dass er jeden Monat im Schnitt 2500 Franken mit seinem Kanal verdient. Das reichte, um die Rechnungen zu bezahlen. So wurde er zum selbstständigen Vollzeitstreamer (vergleiche untenstehenden Text «Vier Millionen Kanäle»).
«Es hört sich ein bisschen albern an, dass ich vom Gamen leben kann», gesteht er. «Aber bei Twitch geht es um mehr als Videospiele. Du verbindest Menschen miteinander.» Er erzählt von einer Zuschauerin, die vor ihrem Tod im Krankenhaus noch ein letztes Mal seinen Stream sehen wollte. Oder von einer Mutter, deren autistischer Sohn dank Martinez’ Sendung glücklich und zufrieden sei. «Mir kommen die Tränen, wenn ich diese Geschichten erzähle. Wenn man so etwas im Chat liest, weiss man nicht mehr, was man sagen soll.»
Digitales Prekariat oder Superstar
Die meisten StreamerInnen erleben ähnliche Geschichten. Das ist nicht erstaunlich, denn sie tauschen sich täglich ganz persönlich mit Menschen von überall aus. Gleichzeitig ist Twitch ein knallhartes Business. Das weiss auch der Soziologe Jamie Woodcock von der Universität Oxford. «Streaming spiegelt viele der heutigen gesellschaftlichen Trends wider», erklärt er. «Es ist prekäre Arbeit in dem Sinn, dass es weder eine Garantie auf geregelte Arbeitsstunden gibt noch auf eine langfristige Anstellung. Für immer mehr Menschen sind solche Bedingungen alltäglich.»
Für Christian Capacoel von der Gewerkschaft Syndicom besteht für die StreamerInnen ein klares Abhängigkeitsverhältnis gegenüber der Plattform und keine Selbstständigkeit. Sie «entscheiden nicht selbst über die Organisation ihrer Arbeit und ihre Arbeitsweise». Ähnlich wie bei Uber nutze Twitch einen juristischen Graubereich aus, weshalb die Regeln angepasst werden müssten, um eine Scheinselbstständigkeit zu beenden. «Freiwillig geben die Plattformen ihr lukratives Geschäftsmodell nicht auf.» Trotz allem kommt für Martinez mittlerweile im Schnitt monatlich ein hoher vierstelliger Betrag zusammen. Genau darf er es nicht sagen, denn das verbieten die Verträge mit Twitch.
Wer würde schon nicht gerne fürs Gamen bezahlt werden? Doch der Schein trügt, denn die Arbeit als digitaler Alleinunterhalter ist kein Zuckerschlecken. Im Schnitt arbeitet Martinez 47 Stunden die Woche und gibt zu bedenken, dass sechs oder sieben Stunden am Stück zu streamen, unglaublich anstrengend ist. «Ich bin sehr energetisch, bewege mich viel, spreche mit dem Publikum. Ich muss über mehrere Stunden hinweg unglaublich fokussiert sein. Wer macht das sonst?»
Hinzu kommt, dass viele StreamerInnen keinen Tag pausieren und das Risiko selber tragen, das von der grossen Fluktuation des flatterhaften Publikums ausgeht. Zu gross ist die Angst, ZuschauerInnen zu verlieren. Denn wer nicht online ist, ist auf Twitch unsichtbar. Immer wieder kommt es deshalb zu Burn-outs und Depressionen aufgrund sinkender Zahlen. Dass die Popularität und damit der finanzielle Erfolg durch Algorithmen beeinflusst wird, macht die Sache nicht einfacher. «Solche Plattformen betonen Hierarchie und Wettbewerb», schreibt Woodcock. «Diejenigen an der Spitze erhalten einen unverhältnismässig hohen Anteil an Aufmerksamkeit.» Das Resultat: Manche Streamer wie der Amerikaner Ninja verdienen mehrere Millionen Dollar pro Jahr.
Andere begnügen sich mit ein paar Hundert Franken im Monat. So auch der 32-jährige Bastien Minotti aus Fribourg. Seit 2014 hat er einen Twitch-Kanal und streamt darauf etwa zwanzig Stunden in der Woche. Daneben arbeitet er im Nachtdienst mit Süchtigen. «Es ist sehr anstrengend, neben einer Vollzeitstelle zu streamen», sagt Minotti, der sich auf Twitch Kirling nennt. «Man arbeitet den ganzen Tag, kommt nach Hause und arbeitet nochmals ein paar Stunden.»
Wie Martinez spricht auch Minotti in seiner Sendung Französisch. Damit hat er eine deutlich kleinere Reichweite als englische Kanäle. Mit seinen etwa vierzig zur gleichen Zeit Zuschauenden ist er in der Schweiz trotzdem vorne mit dabei, denn auf über hundert kommen wenige hinaus. «Mit dem Stream verdiene ich pro Monat etwa 300 bis 400 Franken», rechnet Minotti vor. Zusammen mit seinem Hauptverdienst reiche ihm das zum Leben. Und auch wenn der Stream mehr einbrächte, würde er seinen Job nicht aufgeben – zu unsicher sind die Einkünfte auf Twitch.
Sexismus, Trolle und Hass
Als digitale Alleinunterhalter beschreiten Martinez und Minotti zudem einen schmalen Grat zwischen Bekanntheit und Anonymität. Denn die intime Übertragung aus dem Wohnzimmer birgt einige Gefahren – man weiss nie, wer im Publikum sitzt. So gibt es in den USA immer wieder Fälle von sogenanntem Swatting – angelehnt an die Swat-Spezialeinheiten der Polizeien. Dabei meldet jemand bei der Polizei eine Bedrohung im Haus des Streamers, worauf diese das Haus stürmt – und die ÜbeltäterInnen können das Ganze live mitverfolgen.
Viele gehen deshalb zurückhaltend mit persönlichen Informationen um. So auch die Streamerin Escheria, die ihren bürgerlichen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Die 29-jährige Informatikerin streamt seit 2015 und gehört als Frau zur Minderheit auf Twitch. «Streamerinnen sehen sich oft mit Hass konfrontiert», weiss sie. Sie selbst sei zwar bisher erst selten zur Zielscheibe geworden, bleibt aber trotzdem vorsichtig. «Es spielt keine Rolle, ob man bekannt ist oder nicht.» Manche würden Grenzen nicht akzeptieren. «Sogar eine Kleinigkeit kann plötzlich völlig aus dem Ruder laufen.»
Für Quentin Martinez ist klar, dass manche StreamerInnen ihr Publikum auch als FreundInnen betrachten. Menschen, die man jeden Tag sieht, mit denen man sich stundenlang unterhält, mit denen man die eigene Leidenschaft teilt und die oft mehr über einen wissen als enge Bekannte. «Aber deine Zuschauer sind nicht deine Freunde», weiss er. «Ich habe von Anfang an eine gewisse Distanz gehalten. Ich habe es immer als Leidenschaft, aber vor allem auch als Job verstanden.» Kein einfaches Unterfangen, denn gerade die Vorstellung, mit der Streamerin auf dem gleichen Sofa zu sitzen, macht den Reiz von Twitch aus. Um sich auf dem Grat halten zu können, muss das Mass an Intimität genau geregelt werden.
Vier Millionen Kanäle
Twitch.tv gehört zu den grössten Portalen für Livevideostreaming. Auf über vier Millionen Kanälen tummeln sich jeden Tag fünfzehn Millionen Menschen, die sich vor allem für Videospiele interessieren. Viele streamen aber auch ihren Alltag, lesen Bücher vor oder machen Musik. Dabei dominieren, anders als etwa bei E-Sports-Wettkämpfen, vor allem der Unterhaltungswert und die Interaktion. Die 2011 gegründete Plattform wurde nach bloss drei Jahren von Amazon für 970 Millionen US-Dollar aufgekauft.
StreamerInnen werden vor allem durch freiwillige Monatsabos à fünf Franken pro Kanal finanziert, wovon die Hälfte an Twitch geht. So kann das Publikum den Kanal finanziell unterstützen. Als Belohnung winken kanalspezifische Emoticons sowie die Möglichkeit, auch dann zu schreiben, wenn nur AbonnentInnen im Chat zugelassen sind. Viele StreamerInnen erhalten zusätzliche Einnahmen dank individueller Spenden und Sponsoring. Der Preis sind lange Arbeitstage und digitale Exponiertheit. Trotzdem hat sich die Zahl der StreamerInnen seit 2017 mehr als verdoppelt.