Sofar Sounds: Wie intim kann etwas sein, das sich überall gleich anfühlt?
Sofar Sounds ist Airbnb fürs Hauskonzert. Die Internetplattform promotet Kleinkonzerte in privaten Räumen – und stützt sich auf Freiwilligenarbeit und schlecht bezahlte MusikerInnen. Angetrieben wird das Londoner Start-up von Risikokapital und einer globalen Strategie.
Es ist ein bisschen unheimlich. Die Szene fühlt sich an wie ein Déjà-vu, als würde jeder Schritt einem Script folgen. Man braucht nur einmal darüber gelesen zu haben, um voraussagen zu können, was als Nächstes geschieht. Der Moderator des Anlasses, den hier alle MC nennen, spricht Englisch mit spanischem Akzent und fragt die Leute, die auf mitgebrachten Kissen auf dem Boden sitzen, wer von ihnen noch nie an einem Sofar-Konzert gewesen sei. Einige Hände gehen in die Höhe. Dann fragt er die andere Hälfte des Publikums nach Städtenamen. New York, Madrid, Seattle, tönt es aus verschiedenen Ecken. Es ist klar, wonach es aussehen soll: Die gut fünfzig Leute, die sich hier in diesem Café in einem Büroquartier im Zürcher Kreis 5 eingefunden haben, sind nicht bloss irgendein Konzertpublikum, sondern Teil einer globalen Community.
Bevor das erste Konzert beginnt, erzählt der MC eine kurze Geschichte, den Gründungsmythos von Sofar: Es war einmal in London, drei Freunde besuchten ein Konzert in einem Pub und regten sich auf. Die Leute waren laut, schauten auf ihre Handys, beachteten die Band kaum. Da muss man etwas tun, dachten sich die drei Freunde und begannen, kleine Konzerte in ihren Wohnzimmern zu organisieren. Das sprach sich herum, es meldeten sich Leute, die am Konzept interessiert waren. Die drei gründeten 2009 in London ein Start-up: Sofar Sounds. Dessen Mission: «der Livemusik die Magie zurückzugeben».
Sofar steht für «songs from a room» und ist eine Internetplattform, über die kleine Konzerte für vierzig bis hundert ZuschauerInnen in privaten Räumen promotet werden. Ob ein Anlass in Buenos Aires oder Bangkok über die Bühne geht, das Konzept von Sofar ist stets dasselbe: Die Konzerte finden in geschlossener Gesellschaft statt, man muss sich vorher auf der Website von Sofar dafür «bewerben»; den genauen Ort der Veranstaltung erfährt man erst einen Tag im Voraus; die Namen der drei Bands oder einzelnen MusikerInnen, die je ein Set von 20 bis 25 Minuten spielen, wird erst vor Ort bekannt gegeben.
Zürich, Tramstation Förrlibuckstrasse
In der Schweiz ist Sofar noch relativ unbekannt. In Zürich findet etwa ein Konzert pro Monat statt, in Grossstädten wie Los Angeles oder London hingegen sind es teilweise mehrere pro Tag. So erschienen im englischsprachigen Raum auch die ersten kritischen Recherchen zur Firma. Denn das Geschäftsmodell von Sofar basiert darauf, dass die MusikerInnen für die Auftritte gar nicht oder schlecht bezahlt und die Veranstaltungen grösstenteils von unbezahlten Freiwilligen organisiert und durchgeführt werden. Mit ihrer Praxis der Freiwilligenarbeit bewegt sich die Firma auch rechtlich in einem Graubereich. Nach einer Untersuchung hat sich das Arbeitsministerium des US-Bundesstaats New York Anfang Jahr mit Sofar auf einen Vergleich geeinigt, wonach das Unternehmen 460 000 Dollar an 650 Freiwillige nachzahlen muss.
Mit der Kritik konfrontiert, MusikerInnen und Freiwillige auszunützen, hat Sofar sich wiederholt damit gerechtfertigt, noch bei weitem nicht profitabel zu sein. Jenseits dieser arbeitsrechtlichen Aspekte stellen sich aber noch andere Fragen: Was bedeutet es für die Konzertbranche, wenn eine Plattform wie Sofar immer mehr Einfluss gewinnt? Und wie verändert die Kultur von Sofar die Livemusik?
Wer wissen will, was da keimt, schaut sich die Sache am besten vor Ort an. Mitte Februar war auf der Website von Sofar ein einziges Konzert in Zürich auf Ende Monat angesagt, jenes im Büroquartier im Kreis 5. Bekannt waren nur die ungefähre Gegend (Nähe Tramstation Förrlibuckstrasse) und das Datum. Nach der Registrierung auf der Website schreibt Sofar per E-Mail: «Du bist jetzt Teil einer globalen Community von Künstlerinnen und Musikliebhabern in über 400 Städten!»
Drei Tage vor der Veranstaltung wird der Platz auf der Gästeliste bestätigt. Der Eintritt ist kostenlos, Sofar empfiehlt, am Konzert zehn Franken in die Kollekte zu geben. Ausserdem werde man vermutlich auf dem Boden sitzen, also: Kissen oder Decken mitbringen! Und wiederholt wird man an die Regeln erinnert: nicht reden während der Konzerte und die Musik geniessen, rechtzeitig kommen und bleiben bis zum Schluss; Fotos machen ist in Ordnung, aber bitte auch online posten und Sofar und die MusikerInnen taggen und ihnen auf Social Media folgen.
Als Erster spielt an diesem Abend Jack Zhoul, ein unbekannter Folksänger aus Zürich. Beim Cover von Tracy Chapmans «Fast Car» singen die Leute auf den Kissen mit. Auch der Zürcher macht seine Ansagen auf Englisch, wie es an Sofar-Events üblich ist. Die Leute hier sind im Schnitt um die dreissig und aus verschiedenen Ländern, vermutlich sind viele Expats und Traveller darunter. Der Sänger Beser, der später am Abend auftritt, lebt in Mexiko, hat schon für Sofar in Toronto gespielt und ist für diesen Abend mit seiner Freundin aus Dresden nach Zürich gereist. Nach seinem Auftritt erzählt Jack Zhoul draussen bei einer Zigarette, dass es ihm gefallen habe, wie aufmerksam das Publikum zugehört habe – da habe er schon anderes erlebt. «Für einen Anfänger wie mich ist das nicht selbstverständlich, da ist es nicht so schlimm, dass ich hier fast nichts verdiene.»
Was die MusikerInnen sagen
Ein wichtiger Teil von Sofar ist der Youtube-Kanal des Unternehmens mit über einer Million AbonnentInnen. Denn statt Geld verspricht Sofar den MusikerInnen Öffentlichkeit. Wer zum ersten Mal an einem Anlass von Sofar spielt, an dem auch gefilmt wird, wird vor die Wahl gestellt: Entweder gibt es einen Anteil der Kollekte (manchmal auch eine Gage von pauschal hundert Dollar) oder das Video, das dann für eigene Promozwecke verwendet werden kann.
Allerdings ist fraglich, wie hilfreich diese Plattform für die MusikerInnen tatsächlich ist. Wenn man sich nämlich die sechzehn Youtube-Videos anschaut, die von Konzerten in Zürich auf dem Kanal zu finden sind, wurden viele davon nur gerade ein paar Hundert Mal angeschaut; nur drei haben mehr als 5000 Klicks. Trotz der Reichweite des Kanals bringt die blosse Präsenz dort also noch wenig. Zudem ist das Sofar-Logo stets prominent im Bild platziert, und Ton- und Bildqualität sind mässig. Ein Musiker einer Schweizer Band sagt auf Anfrage, die Tonqualität des Videos, das sie von Sofar bekommen hätten, sei so schlecht gewesen, dass er den Ton selber noch einmal nachbearbeitet habe.
Wenn man mit Schweizer MusikerInnen spricht, die für Sofar gespielt haben, nennen sie als Vorzüge vor allem das aufmerksame Publikum und die Möglichkeit, neue HörerInnen zu erreichen. Mit der Kritik an Sofar konfrontiert, widersprechen manche auch. Dennis Garrn etwa, Schlagzeuger der Winterthurer Band Awesome Arnold, die in einem der Videos auf Youtube zu sehen ist, sagt, Geld sei für sie zweitrangig gewesen. «Für uns ist eine solche Gelegenheit ein Investment in Leidenschaft.»
Die Singer-Songwriterin Sophie Louise hat schon in Zürich und New York Sofar-Konzerte gespielt. In New York aufzutreten, sei für sie eine Chance gewesen, und den Abend habe sie in schöner Erinnerung behalten, erzählt sie. Doch auf die hundert Dollar Gage hat sie letztlich verzichtet; die Überweisung wäre für sie ohne Arbeitsbewilligung in den USA zu kompliziert gewesen, und Sofar wollte nicht bar bezahlen. Sie könne sich gut vorstellen, dass das häufig vorkommt. «Natürlich ist es grundsätzlich nicht in Ordnung, Musikerinnen und Musiker schlecht zu bezahlen, doch das ist leider nicht nur bei Sofar üblich.»
Offiziell müssen sich auch die KünstlerInnen bei Sofar für einen Auftritt bewerben. Allerdings berichten mehrere MusikerInnen, dass umgekehrt Sofar auf sie zugekommen sei. Auch Billie Eilish oder Ed Sheeran, die schon an Sofar-Anlässen aufgetreten sind, dürften sich kaum dafür beworben haben. Die Vermutung liegt nahe, dass bekanntere MusikerInnen für Sofar als Aushängeschilder dienen und den Eindruck erwecken sollen, dass die Plattform ein Sprungbrett für die eigene Karriere sein könne.
Eine der von Sofar angefragten Bands waren Panda Lux aus St. Gallen. «Wir haben damals wenig live gespielt und waren froh, ein paar Songs ausprobieren zu können», erzählt Bassist Janos Mijnssen. Aber die Konditionen seien natürlich alles andere als fair gewesen. Für ein akustisches Konzert haben Panda Lux bereits Fixkosten von mindestens 300 Franken, und verdient haben die Musiker, alle vier ausgebildete Profis, damit noch gar nichts. Das Konzert habe ihm Spass gemacht, berichtet Mijnssen, doch die Stimmung unter den Freiwilligen habe auf ihn zeitweise gewirkt wie bei einer NGO. «Man sieht sich auf der richtigen Seite, macht alles freiwillig, alles für die Künstlerinnen und Künstler.»
Das Geschäftsmodell
Wie ein Mantra hört man seitens von Sofar immer wieder diesen Satz: Es geht hier nur um die Musik. Doch auch wenn Sofar weltweit erst rund hundert MitarbeiterInnen beschäftigt und noch keine Gewinne schreibt, ist der Motor hinter diesem Phänomen eine betriebswirtschaftliche Strategie und jede Menge Risikokapital. Vor einigen Monaten hat Sofar Sounds weitere 25 Millionen Dollar Kapital akquiriert. Neben verschiedenen Investmentfirmen hat der britische Milliardär und Virgin-Gründer Richard Branson in die Firma investiert.
Auch die Geschichte der drei Freunde, die in London ein Pubkonzert besuchten und dann eine gute Idee hatten, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, mit wem man es hier zu tun hat. Einer der drei (die anderen beiden sind mittlerweile ausgestiegen) ist Rafe Offer, ein Global Player in der Werbebranche. In den neunziger Jahren war er Marketingchef des Disney-Konzerns und trieb dort den Verkauf von Produkten für Erwachsene voran (Slogan: «Having Fun Never Goes out of Style»). In weniger als zehn Jahren konnte Disney unter ihm den Umsatz mit Merchandiseartikeln von 50 auf 800 Millionen Dollar steigern. Ausserdem war Offer als Global Brand Manager und als Marketingchef für Coca-Cola tätig, wo er das Engagement Marketing verfeinerte, eine Form von Werbung, die auf Veranstaltungen und andere Formate setzt, um eine Marke für die KonsumentInnen erfahrbar zu machen.
Offer ist ein unscheinbar aussehender Mann mit eckiger Brille und Glatze, manchmal sieht man ihn mit Hut, selten im Anzug. Er ist bis heute für Sofar tätig, den Posten des CEO jedoch hat er vor einem Jahr an Jim Lucchese abgegeben. Auch der ist kein Unbekannter in der Musik- und Techindustrie: Davor leitete er das Spotify-eigene Unternehmen The Echo Nest, das Tools zur Vermarktung von Musik durch Big Data entwickelt. Offer wiederum gibt heute etwa kurze Talks, in denen er immer wieder dieselben rührseligen Geschichten erzählt: wie die vom Obdachlosen, der in New York an einem Sofar-Konzert zwanzig Dollar in den Hut legte, weil er sich in dieser Gemeinschaft so wohlfühlte. Oder die von dem Typen, der seiner Freundin an einem Sofar-Konzert einen Heiratsantrag machte.
Doch wie nimmt Sofar eigentlich Geld ein? An jenem Konzert Ende Februar in Zürich versichern mehrere Freiwillige, dass das Unternehmen an einem solchen Abend nichts verdiene. Sofar bietet nur die digitale Plattform an, deren Algorithmus das Publikum auswählt. Die Räume werden gratis zur Verfügung gestellt (auch dafür kann man sich bewerben), die Arbeit im Hintergrund erledigen die Freiwilligen, während sich die MusikerInnen die Kollekte teilen. Auf diese Weise funktioniert der Grossteil der Sofar-Anlässe.
Für einen kleinen Teil der Konzerte – vor allem in Hotspots wie London oder New York – verlangt Sofar zwischen 10 und 25 Dollar Eintritt. Abzüglich der kleinen Gagen macht das Unternehmen damit einen anständigen Gewinn. Geld verdient Sofar aber auch mit Sponsoring, wenn Konzerte in Firmengebäuden stattfinden, Produkte an Konzerten angepriesen werden oder Konzerte über andere Plattformen wie Airbnb oder die Dating-App Bumble beworben werden.
Auch die Gratiskonzerte sind für das Sofar-Geschäftsmodell entscheidend, denn das Unternehmen funktioniert nur durch seine Community, die systematisch ausgebaut wird. MusikerInnen, die einmal für Sofar gespielt haben, werden dazu motiviert, weitere Konzerte zu spielen, am besten am anderen Ende der Welt. Manche spielen sogar kleine Sofar-Touren. Ebenso wird die Community über das Publikum erweitert. Der Algorithmus wählt die Leute so aus, dass Neulinge auf Personen treffen, die schon in der Community aktiv waren. Kommt man auf die Gästeliste, darf man eine Person mitnehmen. Manchmal motiviert der MC die Leute sogar dazu, sich mit der Person auf dem benachbarten Kissen anzufreunden.
Alles vereinnahmendes Marketing
Allerdings hat diese Community im Kern vor allem einen Inhalt: die Marke Sofar. Denn die Plattform tut alles dafür, jede mögliche Eigenheit oder Abweichung in einer gleichförmigen Erfahrung zu ersticken. Für die Events stellt Sofar sogenannte Templates zur Verfügung, die jedes Detail vorgeben, bis hin zu den Ansagen des MCs. Das gilt nicht zuletzt auch für die Musik: Nicht laut soll sie sein, niemanden vor den Kopf stossen, gechillt eben.
Das heisst nicht, dass man an Sofar-Konzerten nicht auch gute Musik hören kann, nur bewegt sich diese eben in einem klar begrenzten Rahmen. Offensichtlich geht es bei der Auswahl eher um Stressreduktion als um Konfrontation oder Überraschung – auch wenn Sofar ständig das Gegenteil behauptet. US-Getränke-Konzerne haben schon in den neunziger Jahren begriffen, dass Marketing mit Livemusik dann am besten funktioniert, wenn die MusikerInnen selber nicht zu viel Raum einnehmen. Das Konzept der «blind date concerts», bei denen die auftretenden Bands erst vor Ort bekannt gegeben werden, hat Naomi Klein schon in «No Logo» beschrieben, dem Standardwerk zum Markenkapitalismus. Obwohl Sofar ständig beteuert, dass man vor allem die MusikerInnen unterstützen wolle, werden diese vom alles dominierenden Vibe beinahe unsichtbar und zu TrägerInnen der Marke Sofar gemacht.
Der Effekt der Geheimnistuerei um Veranstaltungsorte und auftretende MusikerInnen ist, dass Sofar-Konzerte eine Aura des Verheissungsvollen erhalten. Obwohl die Plattform etwas ganz Banales macht, was es schon seit Jahrhunderten gibt – kleine Konzerte in privaten Räumen veranstalten –, wird der Eindruck erweckt, an diesen Orten geschehe etwas Einzigartiges und Intimes. Doch wie intim kann etwas sein, das sich überall auf der Welt genau gleich anfühlt? Ist Sofar also nicht ein perfektes Beispiel für Engagement Marketing, das Rafe Offer schon bei Coca-Cola genutzt hat? Nur dass hier über die Erfahrung nicht mehr ein Produkt wie zum Beispiel ein Softdrink vermarktet wird, sondern die Erfahrung der Marke selber zum Produkt wird.
Öffentlich antwortet Sofar jeweils schnell und zuvorkommend auf Kritik, ohne dabei Fehler einzugestehen – was nicht überrascht bei einem Unternehmen, das so stark von seinem Image abhängig ist. Am Konzert in Zürich reagiert eine der Freiwilligen sichtlich irritiert, als sie auf die problematischen Aspekte der Geschäftspraxis von Sofar angesprochen wird. Ob dieser Artikel denn gar nicht wohlwollend werde? Sofar würde den Leuten doch so viel Freude bereiten! Auf mehrere Kontaktaufnahmen mit Sofar kam bis Redaktionsschluss nur eine Zusicherung, es werde sich dann jemand melden.