Indien: Der Kampf ums Recht, zu pinkeln

Nr. 24 –

Seit acht Jahren engagiert sich die BürgerInnenbewegung «Right to Pee», um für Frauen den Zugang zu Toiletten zu verbessern.

Es ist drückend heiss, die Luft schwer. Dreissig Grad Celsius zeigt das Thermometer, doch gefühlt sind es vierzig. Die Stadt wartet auf den Beginn der Regenzeit. An Tagen wie diesen hilft in Bombay nur: Schatten und viel trinken, gerade wenn man unterwegs ist. Doch das ist nicht immer eine ratsame Empfehlung, denn schnell stellt sich die Frage: Wo lässt sich die nächste Toilette finden? Für viele Frauen ist das eine tägliche Herausforderung.

Die bevölkerungsreichste Stadt Indiens hat ein Problem: Es gibt zu wenige Toiletten. Zudem ist nur eine von drei öffentlichen für Frauen bestimmt. 2011 gab es für Männer über 2800 kostenlose Urinale in Mumbai. Für Frauen kein einziges. Grund genug, für das «Recht zu pinkeln» zu protestieren. Mit dieser Agenda begann die Kampagne «Right to Pee» (RTP), unterstützt von über dreissig NGOs. Die Aktivistin Supriya Sonar ist von der ersten Stunde an mit dabei. Mit kreativen Aktionen – etwa der Drohung, vor dem Regierungsgebäude zu pinkeln – haben sie die Stadtverwaltung an den Verhandlungstisch gezwungen.

Von der Toilette zur Teilhabe

«Wir brauchen vier Mauern, wir brauchen Privatsphäre. Sauberkeit ist für alle notwendig. Warum wird aufgrund des Geschlechts diskriminiert?», sagt sie laut und klopft mit der Faust auf den Tisch, während die Ventilatoren im Hintergrund rattern. Sonar geht es neben dem Menschenrecht auf ein Klo darum, öffentliche Orte in der Stadt für Frauen zu erobern. Anfangs machten sie sich für kostenlose Frauenurinale und Automaten mit Damenbinden stark. «Später haben wir uns die volle Dimension des Problems angesehen», sagt Sonar.

Im Zentrum stehe grundsätzlich die politische Teilhabe von Frauen. Um diese zu fördern, führen die AktivistInnen Umfragen durch, in denen Frauen ihre Situation darlegen können. «Wir tragen alle zur wirtschaftlichen Entwicklung bei, also steht uns auch politische Teilhabe zu», sagt Sonar. Was sie schon ahnten, bestätigten ihre Recherchen später: Es mangelt an hygienischen und erschwinglichen Toiletten besonders für Frauen, Transmenschen, Kinder und Menschen mit Behinderungen. Für sie ist die nächste Strassenmauer kaum der ideale Ort, um sich zu erleichtern.

Sonar rechnet vor: Wenn eine Gemüseverkäuferin 100 Rupien (1.40 Franken) am Tag verdient, sind 20 Rupien (29 Rappen) am Tag viel Geld für öffentliche Toilettenbesuche. Durch Nachforschungen hätten sie herausgefunden, dass die Preise bei Einrichtungen variierten, je nachdem, wie gut man gekleidet sei, sagt die 25-jährige Kiran Tejrao, die neben ihr sitzt – wer vermögend aussehe, von dem werde am Einlass häufig mehr verlangt. Oder es gibt schlichtweg kein WC. An vielen Schnellzughaltestellen wurden sie erst im Nachhinein geplant. Standardisiert sind sie nur an Start- und Endpunkten vorhanden, die weit ausserhalb der Stadt liegen. Orte, die nach Sonnenuntergang für Frauen nicht unbedingt sicher sind.

«Dennoch wollte sich niemand mit uns beschäftigen», sagt Sonar. Ihren Durchbruch hatte Right to Pee 2014, als die Organisation von den städtischen Behörden als Gesprächspartnerin anerkannt wurde. Im selben Jahr machte die Regierung in Delhi den Zugang zu Toiletten zum Gegenstand einer indienweiten Kampagne.

«Wir müssen sie herausfordern»

Als Supriya Sonar vor dreissig Jahren im westindischen Goa aufwuchs, war die nächste Toilette fünf Gehminuten von ihrem Haus entfernt – in dem es keine sanitären Einrichtungen gab. Doch der Zugang zu Toiletten ist nicht nur ein Problem im ländlichen Indien. Auch heute stehen Frauen in einfachen Wohnsiedlungen in Bombay oft nur Gemeinschafts-WCs zur Verfügung, von denen sie sich eines mit über hundert anderen teilen müssen.

Aus der Feldarbeit wissen RTP-AktivistInnen: Selbst wo es Toiletten gibt, fehlt es oft an Elektrizität oder Wasser. Zu kostenfreien Toiletten muss nicht selten jede einen Eimer Wasser zum Spülen mitbringen. Ihr ExpertInnenwissen setzen sie heute ein, um die Stadtverwaltung zu beraten. Seit einem Jahr denken sechs festangestellte MitarbeiterInnen die Ideen von RTP weiter. Finanzieren können sie sich aus Projektgeldern. Sonar und ihr Team haben einen Arbeitsplatz im Frauenzentrum im Vorort Chembur. Hier im Osten Bombays, wo es viele Slums gibt, arbeiten sie mit der Stadt daran, für mehr und saubere Toiletten zu sorgen. Dafür haben sie die Wohnviertel ausgekundschaftet und mit den BewohnerInnen gesprochen. Denn nur mit der Einbeziehung der Menschen vor Ort könne sie die Lage nachhaltig verbessern.

Trotz der Zusammenarbeit mit den Behörden bleibt RTP laut. «Wir müssen sie herausfordern», sagt Sonar. Als das ländliche Gebiet des zugehörigen Bundesstaats Maharashtra vorschnell als «defäkationsfrei» erklärt wurde, haben sie widersprochen. Auch der Welttoilettentag am 19. November bleibt ein Pflichttermin für Protestaktionen. Denn auch wenn das Thema inzwischen den indischen Mainstream erreicht hat, braucht es Leute, die weiter Druck machen – so wie Supriya Sonar.