Wahl in Istanbul: Neubeginn im Konjunktiv
Für Recep Tayyip Erdogan wurde die Wahlwiederholung in Istanbul zum Desaster. Es könnte der Anfang vom Ende seiner Herrschaft sein. Doch Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu steht vor einer schwierigen Aufgabe.
RegierungsgegnerInnen, die nach einer Wahl in den Strassen Istanbuls ausgelassen feiern: Solche Bilder aus der Türkei hat es schon lange nicht mehr gegeben. Und Szenen von gemeinsam tanzenden AnhängerInnen der kemalistischen CHP und der kurdisch-türkischen Linkspartei HDP erst recht nicht.
Tatsächlich hat die Opposition in der Türkei zum ersten Mal seit langer Zeit Anlass zur Hoffnung: Die Wiederholung der auf Druck der Regierung annullierten Oberbürgermeisterwahlen in der Metropole am Bosporus wurde für Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und seine islamisch-konservative AK-Partei zum Desaster. Der am 31. März mit nur 14 000 Stimmen noch äusserst knappe Vorsprung des Oppositionskandidaten Ekrem Imamoglu ist auf 800 000 Stimmen angewachsen. Imamoglu, der der CHP angehört, gewann in 28 von 39 Istanbuler Stadtteilen und eroberte – anders noch als bei der ersten Wahl – sogar einige AKP-Hochburgen.
Offensichtlich hat Erdogans Agieren erst recht Stimmen für die Opposition mobilisiert: Bis zum Ende blieb beispielsweise unklar, wie es sein kann, dass alle vier bei der Kommunalwahl am 31. März abgegebenen Stimmen – auch jene für die Bezirksbürgermeister – in ein und demselben Couvert abgegeben wurden, aber allein die Wahl des Oberbürgermeisters für ungültig erklärt wurde.
Auffallend zurückhaltend
Überdies hat sich die Vehemenz, mit der Erdogan in den vergangenen Jahren nicht nur den Staat, sondern auch seine eigene Partei umbaute, nun ein Stück weit gegen ihn gewendet. So gab es 2017 unter seiner Anleitung eine gross angelegte «Säuberung» der AKP. Damals wurden viele erfahrene, aber eben auch eigensinnige Lokalpolitiker aus ihren Ämtern entfernt und durch loyale Gefolgsleute des Präsidenten ersetzt. Zu den Abservierten gehörte Kadir Topbas, der mehr als zehn Jahre lang AKP-Oberbürgermeister von Istanbul gewesen war.
An seiner statt kandidierte nun Binali Yildirim, ein farbloser Politiker, dessen auffälligstes Merkmal es ist, Erdogan absolut treu ergeben zu sein. Genützt hat es ihm nicht. Als sich in den Wochen vor der Wahlwiederholung in Istanbul eine erneute Niederlage der AKP schon andeutete, wandte sich Erdogan ab; hatte er im März noch Wahlkampf betrieben, als stünde sein Name auf dem Stimmzettel, blieb der Staatspräsident nun auffallend still.
Einen verzweifelten wie dubiosen Versuch, die Stimmung doch noch zu drehen, unternahm die staatsnahe Presse wenige Tage vor dem Urnengang: Sie präsentierte einen angeblich von Abdullah Öcalan verfassten Brief, in dem der seit zwanzig Jahren inhaftierte Gründer der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu «Unparteilichkeit» bei den Wahlen aufgerufen haben soll. Dieses Manöver entbehrte nicht einer gewissen Komik, da Erdogan und die regierungstreuen Medien seit Ende des Friedensprozesses im Jahr 2015 für gewöhnlich mit dem Vorwurf, sie würden der PKK angehören, rigoros gegen sämtliche Oppositionelle vorgehen.
Diese Episode zeigt allerdings, dass Erdogan ganz richtig erkannte, wie entscheidend die kurdischen Stimmen sind. Wie auch schon für den 31. März hatte die HDP keinen eigenen Kandidaten aufgestellt – ihre AnhängerInnen stimmten für Imamoglu. Dieser versprach am Sonntagabend, die Stadt werde von nun an «von Gerechtigkeit, Gleichheit und Liebe» regiert. Das ist ein grosses Versprechen. Zum einen steht Imamoglu jetzt vor der Aufgabe, eine überzeugende Sozialpolitik in Istanbul – in der Stadt leben sechzehn Millionen Menschen – zu gestalten. Armut, Familienpolitik und Arbeitslosigkeit waren die zentralen Themen seines Wahlkampfs. Hier könnte Erdogan der neuen Istanbuler Stadtregierung durchaus Steine in den Weg legen.
Die Hoffnungen der Opposition
Doch auf Imamoglu ruhen noch weitaus grössere Hoffnungen, als es normalerweise bei einem Kommunalpolitiker der Fall ist. Die Verheissung des Sonntagabends für die Opposition lautet: Jetzt gewinnen wir die Türkei! Um Erdogan das gesamte Land streitig zu machen, ist es jedoch noch ein weiter Weg. Er konzentriert weiterhin enorm viel Macht in seinen Händen, daran ändert sich vorerst nichts. Und die durch die vergangenen Jahre extrem beschädigte Demokratie wurde auch nicht mit einem Schlag wiederbelebt – vielmehr dürfte am Sonntag der Vorsprung Imamoglus zu deutlich und das Interesse an den Wahlen zu gross gewesen sein, um sie einfach manipulieren zu können.
Vor allem aber wird die Türkei nur mit einer inklusiven Politik zu gewinnen sein. Die Sache der CHP ist eine solche hingegen nicht, im Gegenteil: Die Partei des Staatsgründers Atatürk steht in einer langen Tradition nationalistischer und antikurdischer Politik. Dass Imamoglu am Sonntag auch den Minderheiten für ihre Unterstützung dankte, kommentierte Ali Ertan Toprak, Bundesvorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschland, daher sarkastisch mit den Worten: «Hey, Minderheiten der Türkei, geniesst es heute, Kurden, Armenier, Griechen, Juden, Aleviten zu sein – denn morgen seid ihr wieder die internen Feinde.» Toprak erinnerte daran, dass die CHP im Parlament die Erdogan-Regierung einst darin unterstützte, gegen die HDP-Abgeordneten vorzugehen. «Ohne eine neue Kurdenpolitik der CHP», so Toprak, «wird es nichts mit dem Neuanfang.»