Ein Traum der Welt: Kritik im Fieber

Nr. 27 –

Annette Hug hat beim Bachmannwettlesen zugehört

Mit einer Sommergrippe im Nachtzug von Klagenfurt nach Zürich zu fahren, ist ökologisch sinnvoll. Allerdings bläst dann die Klimaanlage kalte Luft direkt ins Gesicht. Aufgeheizt fröstelnd lassen sich Gedanken schlecht ordnen. Grosse Töne und raunende Halbsätze drehen sich im Kopf: der ganze Lärm, den der Bachmannpreis produziert, wenns am Schluss um die Preisvergabe geht.

Begonnen hat es schön konzentriert. In Klagenfurt ist die Jury für einmal kritisierbar, denn sie diskutiert vor Publikum. Zu hören war Ronya Othmanns literarische Reportage über den Genozid von 2014 an den JesidInnen im nordirakischen Sindschar. Drei Autorinnen zeichneten pflanzliche, interstellare, ozeanische Zukunftswelten, mit ganz unterschiedlichen literarischen Mitteln. Dass die Science-Fiction-Autorin Ursula K. Le Guin als Referenz in der Diskussion auftauchte, schien mir ein Novum. Die österreichische Provinz kam ausgiebig vor, Tom Kummer las von einer Taxifahrt durch die Schweiz. Gewonnen hat Birgit Birnbacher mit einem Text, der witzig mit einem soziologischen Beobachter spielt. Er wird Teil eines alltäglich-mysteriösen Geschehens um einen Schrank und Leben mit zu wenig Geld.

Die Auffassungen der Jurymitglieder lagen weit auseinander. Das wurde deutlich, als Hildegard Keller sagte, sie könne «als Literaturwissenschafterin» nicht über den Text von Ronya Othmann sprechen, weil die Autorin sehr persönlich schreibe. Keller deutete an und unterstellte damit, dass jede literarische Kritik als moralische Indifferenz ausgelegt würde. Insa Wilke, die Othmann eingeladen hatte, widersprach und tat alles, um eine Diskussion zu führen, drei Juroren hatte sie auf ihrer Seite, aber auch die Lyrikerin Nora Gomringer wollte nur schweigen.

Othmann schreibt, wie sie 2018 die jesidischen Verwandten ihres Vaters im Nordirak besucht. Sie schreibt auf, was ihr erzählt wird, wann und wie jemandem die Sprache versagt, wie Filmaufnahmen mehr Unwirkliches als Wirkliches produzieren. Dabei schafft sie in ihrem Text ein «Ich», das sich manchmal zu einem «wir Jesiden» erweitert, dann schrumpft es auch wieder und wird unsicher. Wer «wir» sind und werden im Angesicht eines Völkermords, ist also Gegenstand des Textes. Ronya Othmann nutzte die Fernsehbühne, um eine Geschichte zu erzählen, die erzählt werden muss. Noch selten habe ich einer Lesung so gebannt zugehört. Im Alltag drohen die unerträglichen Nachrichten aus Syrien und dem Irak zum konstanten Newsstrom zu verschwimmen. Ein Text wie dieser gibt einer Katastrophe Kontur und schafft in meinem Fall die Voraussetzung, dass ich wieder darüber nachdenken kann. Dabei setzt er literarische Mittel genau da ein, wo es sie unbedingt braucht: bei der Reflexion des Ichs, das erzählt, und beim Zweifel an der Sprache, die beim Berichten zur Verfügung steht. Wenn eine Jurorin dazu nichts sagen kann, dann verweigert sie einfach die Diskussion: über den Text, den Genozid und die Frage, was Literatur heute kann.

Noch heftiger wurde es bei der Frage, wann ein Text über die Zeit des Nationalsozialismus unangemessen sei, gar unerträglich. Kein gemeinsamer Nenner in dieser Jury. Plötzlich war viel zu wenig Zeit. Dafür drehte sich dann alles beim Wachliegen im Nachtzug weiter. Auch das blöde Abstimmen, der Lärm, die Klimaanlage.

Annette Hug ist Autorin in Zürich und inzwischen wieder gesund.

Ronya Othmann hat in Klagenfurt den Publikumspreis gewonnen. Alle vierzehn Texte und die Lesungen des Wettbewerbs sind auf bachmannpreis.orf.at aufgeschaltet.