Hans Christoffel: Ein Bündner Jagdhund in Indonesien
Anfang des 20. Jahrhunderts beging die Königlich Niederländisch Indische Armee eine Reihe von Massakern auf der Insel Flores. Mitverantwortlich als Kriegsverbrecher: ein Schweizer Offizier.
Flores, Indonesien, im Oktober 2008: Der Zürcher Ethnologe Edgar Keller, ein Experte für die Nachbarinsel Sumba, forscht zur «Pazifizierung» der kleinen Sundainseln: Die Armee der niederländischen Kolonialherren unterwarf die unabhängig verbliebenen Gebiete, die ihre Herrschaft nicht anerkannten. Auf Sumba verlief dies relativ glimpflich. Doch auf Flores soll es unter der Leitung eines Offiziers aus der Schweiz zu Massakern gekommen sein.
Keller will Näheres dazu in Erfahrung bringen und macht sich mit seinem Kollegen Yoseph Agato Sareng auf die Suche. Sareng stösst nördlich von Bajawa im Gebiet der So’a mit etwas Glück auf BewohnerInnen, deren Eltern und Grosseltern ZeugInnen der Massaker von 1907 waren.
Der Vater von Thomas Mite (66) hat als Zehnjähriger Folgendes erlebt: Über hundert Männer, Frauen und Kinder drängten in die Rema-Bere-Höhle, die nur Platz für fünfzig Menschen bietet. Einige meinten, die Höhle habe schon oft Schutz geboten; Mites Grossvater dagegen fand den engen Unterschlupf zu verräterisch und zog mit gut der Hälfte der Anwesenden weiter. Nach sechs Kilometern hörten sie Schüsse, die nicht enden wollten.
Ignas Tena (67) weiss durch seinen Grossvater: Die mobilen Truppen entdeckten das Versteck und schossen vom Eingang aus wahllos auf die Menschen. Tena nennt zwei Überlebende, die unter die Leichen der anderen zu liegen gekommen waren. Das bestätigt Franziskus Rema (60), dem es seine Mutter erzählte. Schon bald soll ein unerträglicher Verwesungsgestank entstanden sein; über die Leichen sollen sich Affen hergemacht haben, bis die nächste Regenzeit die Überreste Richtung Meer spülte. So geistert die Geschichte noch heute unter den Nachfahren herum.
Was trieb die Niederländer zu solchen Massakern? Die Gründe sind weniger in Flores als in Den Haag, in Batavia (dem heutigen Jakarta) und in Aceh zu finden. Paradoxerweise hatte es mit einer damals neuen, humaneren Kolonialpolitik zu tun. Lange machten die Niederländer keinen Hehl daraus, dass das Inselreich der Ausbeutung dienen sollte. Im Staatsbudget wurden jeweils die Quoten festgesetzt, die die Kolonien beizutragen hatten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Landbevölkerung Javas jedoch so verarmt, dass sich Stimmen mehrten, die eine Entwicklung der Kolonie forderten: Christlich-Konservative sprachen von moralischer Verpflichtung; Liberale hatten auch den ökonomischen Nutzen einer modernen Infrastruktur im Auge. Und so sollten Strassen, Eisenbahnen, Brücken und Häfen angelegt werden und Investitionen in Minen und Plantagen fliessen – zum Wohl der «Inländer» und ebenso zum Vorteil des kolonialen Kapitals.
Der Vorläufer von «Search and Destroy»
Der Paternalismus hatte eine Kehrseite. Er setzte Gehorsam voraus, und so wurden die Völker der indonesischen Inselwelt gewissermassen die Entwicklungsleiter hochgeprügelt. Flores galt einst als unbedeutender Aussenposten. Einzig die Ausbeutung von vermuteten Zinnvorkommen stand auf der Liste. Eine Expedition von 1890 scheiterte jedoch am Widerstand der Bevölkerung. Als im Juli 1907 Einheimische das Hafenstädtchen Ende überfielen, war das der Kolonialregierung der willkommene Anlass für eine Strafexpedition: Flores sollte nach der Aceh-Methode befriedet werden.
Der Krieg im rund 4500 Kilometer nordwestlich von Flores gelegenen Aceh auf Sumatra dauerte gegen vierzig Jahre und forderte über 100 000 Opfer. Der Königlich Niederländisch Indischen Armee (KNIL) gelang es über Jahrzehnte nicht, gegen die Guerilla zu gewinnen. Grosse Einheiten bewegten sich im steilen Terrain nur schwerfällig und waren für Hinterhalte anfällig. Allmählich riss der Krieg ein Loch ins Budget der Kolonie, und so wurde Aceh zum Experimentierfeld für neue Taktiken.
Der Durchbruch kommt mit einer neuen Truppe, der Marechaussee, die in Brigaden von je zwanzig Mann feindliche Anführer in ihren Rückzugsgebieten verfolgt. Sie besteht hauptsächlich aus Söldnern der Inselgruppe der Molukken unter der Leitung eines europäischen Sergeants. Mit modernen Repetiergewehren und Säbeln patrouillieren sie das Hinterland, oft auch nachts in unbekanntem Terrain. Die Rebellen führen Lanzen, Schwerter und alte Vorderlader. Es ist ein ungleicher Kampf. Doch die Marechaussee hat gerade den Auftrag, den Rebellen zu zeigen, dass jeder Widerstand zwecklos sei. Entsprechend skrupellos geht sie vor. Die Taktik wird später von den Briten beim kommunistischen Aufstand in Malaysia und von den US-Amerikanern in Vietnam kopiert. Dort heisst das «Search and Destroy». Nicht die Kontrolle des Gebiets zählt, sondern die Schlagkraft des Gegners soll gebrochen werden. Das zeigt ein Militärrapport nach der Erstürmung des achinesischen Dorfes Kuta Reh im Juni 1904: «Eine gruselige Arbeit für die Brigaden war das Nachzählen und Erkennen der Gefallenen (…). Es zeigte sich, dass unter den Menschenhaufen noch 61 Kinder unverwundet zutage gebracht werden konnten. Die Verluste des Feindes betrugen: gefallen 313 Männer, 189 Frauen und 59 Kinder; verwundet 20 Frauen und 31 Kinder; unverletzt 2 Frauen und 61 Kinder.»
Drei Namen stehen hinter der neuen Taktik: Jo van Heutsz gründet die Spezialtruppe und macht sie als General in Aceh zum Hauptpfeiler der Militärstrategie; als Generalgouverneur wendet er die Methode auf dem ganzen Archipel an. Major van Daalen setzt die Strategie in ein Einsatzkonzept um. Unter seiner Führung findet das Massaker auf Kuta Reh statt. Und schliesslich ist da der Bündner Hans Christoffel als ausführende Hand. Er wird quer durch den Archipel geschickt: 1905 nach Borneo, 1906 nach Sulawesi, 1907 wieder nach Aceh, ins Batakgebiet in Nordsumatra und nach Flores und bis 1910 erneut nach Aceh. Wer ist dieser Mann?
Sie nannten in Kapitan Kecil
Geboren wurde Hans Christoffel 1865 in Rothenbrunnen GR im Domleschg, sein Vater war Landwirt. Nach der Kantonsschule soll er in Bologna Theologie studiert haben, doch nach einem Semester geht er in die Niederlande und schliesst sich der KNIL an. Eine Offizierskarriere ist bloss theoretisch möglich, denn Soldaten ist der Aufstieg verwehrt. Christoffel hätte seine sechsjährige Dienstzeit als Fourier auf dem ruhigen Aussenposten Ambon absolvieren und mit einer bescheidenen Rente zurückkehren können. Doch er unterschreibt für weitere Jahre und kommt nach Aceh, wo er sich im Antiguerillakampf auszeichnet.
Seine Untergebenen nennen ihn später Kapitan Kecil, den kleinen Hauptmann. Mit seinen 157 Zentimetern erfüllte er die Zulassungsbedingungen der KNIL nicht. Umso zäher ist der Schweizer, wenn er in Gewaltmärschen die Bergwälder Acehs durchstreift. Rastlos treibt er seine Untergebenen und seine Feinde quer durch den Urwald, sich auf den Kompass verlassend. Zwangsarbeiter schlagen die Bahn frei, denn die üblichen Pfade würden die Truppen schon weit vor der Ankunft verraten.
So gelingt es Hans Christoffel, die Lieblingsfrau des Thronanwärters zu verhaften, was diesen zur Aufgabe bringt. Damit verliert der Widerstand einen Helden, und Christoffel erhält seinen ersten Orden. Beim Feldzug ins Alas- und Gajogebiet stürmt er zuvorderst mit, verliert seinen rechten Daumen, zieht sich einen Lanzenstich im rechten Oberarm und einen Streifschuss an der Stirn zu. Man befördert ihn zum Leutnant und später ausserordentlich zum Hauptmann. Nun kann man ihn mit Missionen beauftragen. Er soll den Widerstand brechen – und erhält einen Freibrief in der Wahl der Mittel. Seine Truppe, die berüchtigte Tigerkolonne, trägt ein rotes Halstuch, um ihr blutiges Auftreten zu unterstreichen. Bei seinem Austritt aus der Armee ist Christoffel der höchstdekorierte Offizier der KNIL.
Und weshalb wird seine Mission auf Flores zu einer der brutalsten Episoden in der jüngeren Geschichte Niederländisch-Ostindiens? Christoffel hat den Auftrag, die Stammeshäupter in Mittelflores zu unterwerfen, Gewehre einzusammeln und die Bevölkerung zur Rückkehr in die Dörfer zu bewegen. Ihn begleiten nur 162 kriegserfahrene Marechaussees und einige Hundert Zwangsarbeiter als Träger. Mit dem Widerstand können die Soldaten umgehen. Schwieriger sind das hohe Tempo, das unwegsame Terrain und das ungesunde Klima. Ende Oktober ist Christoffel nur noch mit 46 Soldaten und einer Handvoll Trägern unterwegs. Der Regierungsbeamte drängt auf einen Marschhalt, bis Verstärkung eintrifft. Doch Christoffel lässt sich nicht beirren und fordert seiner übermüdeten und nicht immer genügend versorgten Truppe Gewaltsleistungen ab.
Ein schrecklicher Hinweis
Da keine Soldaten übrig sind, um Gefangene zu betreuen und zu transportieren, werden mutmassliche Feinde getötet – eine Praxis, die aus Aceh übernommen wurde. Ein weiterer Hinweis taucht zehn Jahre später in der Wochenzeitschrift «Draussen» auf. Der Offizier Willy schreibt dort gelegentlich vom Soldatenleben im Osten. Ein schwermütiger Sergeant erzählt von seinen Erfahrungen beim Feldzug auf Flores. Er musste dort mit seiner Brigade nach DorfbewohnerInnen in ihren Verstecken suchen. Wenn sie nicht innert zwei Tagen zurückkehrten, waren sie zum Abschuss freigegeben. Um die Soldaten zu motivieren, zahlte man ihnen einen Reichstaler Kopfgeld. Der Sergeant berichtet, wie einer seiner Soldaten eine Gruppe Einheimischer entdeckte, in eine Schlucht verfolgte und dort zu schiessen begann. Ein paar Tage danach war im Biwak ein grosses Fest, weil der Soldat 52 Taler erhalten habe und ihm der «Willems-Orde» in Aussicht gestellt worden sei.
Auch ein Artikel eines ehemaligen Marechaussee-Offiziers nennt Kopfgeldzahlungen. Er erscheint im November 1907 und listet alle Übertretungen des Militärs in Aceh auf. Wecker – so sein Pseudonym – behauptet, dass die Verantwortlichen den Erfolg vor allem an der Anzahl Opfer bemessen und so in Aceh eine wahre Menschenjagd angefacht hätten. Die Artikelserie bringt in den Niederlanden die anfangs euphorische Stimmung zu den Erfolgen in Aceh zum Kippen, es folgt eine parlamentarische Untersuchung. Das Parlament hält der Armee zwar den Rücken frei. Doch kurz nach der zweiten Haager Friedenskonferenz, an der sich das Land für ein strenges Kriegsrecht engagiert hat, steht der Ruf als zivilisierte und friedensfördernde Nation auf dem Spiel.
Im Dezember 1907 schreiben einige Zeitungen von Grausamkeiten auf Flores. In einem Dorf sollen neben 100 Männern 487 Frauen und Kinder umgebracht worden sein. Dies berichten Soldaten, die von dort evakuiert worden sind. Die Armee greift schnell ein und übt Druck auf die Soldaten aus. Von nun an versuchen die Kolonialbehörden, schlechte Publizität zu vermeiden.
Christoffel kehrt drei Jahre darauf der Armee den Rücken. Der Armee ist der Held von einst zu einer Altlast geworden. Christoffel fühlt sich übergangen. Seine Frau bringt ihn mit der Theosophie in Berührung. Er beschäftigt sich mit Hinduismus und wird später ein Bewunderer Mahatma Gandhis. In einem seltenen Interview von 1940 sagt er: «Vor dreissig Jahren habe ich den Vorhang fallen lassen über alles, was geschehen ist. Ich habe den Urwald von mir abgeschüttelt, ein neues Leben begonnen. Ich habe Ruhe gesucht und gefunden.» 1961 stirbt er 96-jährig in Antwerpen.
Auf Flores hinterliess Christoffel ein Chaos. Die politischen Strukturen waren auf Jahrzehnte hinaus zerstört.