Postkolonialismus in den Niederlanden: «So wird man vom Kolonisator eben behandelt»
Ein Report über koloniale Gewalt, Entschuldigungen des Premierministers, eine grosse Ausstellung im Rijksmuseum: Kommt das verdrängte Kapitel Indonesien in den Niederlanden nun auf den Tisch?
Aussergerichtliche Hinrichtungen. Folter, unter anderem durch Stromschläge und Scheinexekutionen. Erschiessungen von Personen, die unter Folter Geständnisse gemacht haben. Willkürliche Massenverhaftungen, in Brand gesteckte Dörfer. Es ist ein Kaleidoskop des Horrors, das sich entfaltet, als Mitte Februar in den Niederlanden ein Report präsentiert wird. «Unabhängigkeit, Dekolonisierung, Gewalt und Krieg in Indonesien, 1945–1950» lautet der Titel. Das Fazit: Um den indonesischen Unabhängigkeitskampf zu unterdrücken, wendeten niederländische Militärs «systematisch extreme Gewalt» an, deren Ausmass jahrzehntelang verschwiegen wurde.
Wenig später tritt Premierminister Mark Rutte, dessen vorige Regierung den Report 2017 in Auftrag gab, in Den Haag vor die Kameras. «1945 bis 1949 führten die Niederlande einen kolonialen Krieg in Indonesien», beginnt er und spricht der indonesischen Bevölkerung sein tiefes Bedauern «für die systematische und weitverbreitete extreme Gewalt von niederländischer Seite und das Wegschauen früherer Kabinette» aus. Rutte geht damit weiter als sein König Willem-Alexander, der sich 2020 auf Staatsbesuch in der einstigen Kolonie für niederländische «Gewaltentgleisungen» entschuldigte. Die Befunde der Forscher:innen sieht der Premier als Beginn einer gesellschaftlichen Debatte, «die zweifellos kommen wird».
Ausgeblendete Kolonialzeit
Tatsächlich sind Indonesien und seine dreieinhalb Jahrhunderte dauernde koloniale Beherrschung durch die Niederlande und ihre Ostindien-Kompanie (VOC) in diesem Frühjahr ein öffentliches Thema. Kurz vor der Präsentation des besagten Reports wird im Amsterdamer Rijksmuseum eine Ausstellung mit dem Titel «Revolusi! Indonesia independent» (Revolution! Indonesien unabhängig) eröffnet. Aus der Sicht von Freiheitskämpfern und Zivilistinnen, Journalisten, Künstlerinnen, aber auch Kolonisten und der gemischten, «indoniederländisch» genannten Bevölkerung blickt sie auf die gleiche Periode kurz nach dem Zweiten Weltkrieg.
Im einstigen Niederländisch-Indien endete der Weltkrieg nach dreijähriger japanischer Besatzung mit der Kapitulation Tokios im August 1945. Danach rief der angehende Präsident Sukarno die Unabhängigkeit Indonesiens aus. Repräsentant:innen des kolonialen Systems und der Kollaboration Verdächtigte wurden attackiert. Niederländische Truppen versuchten, die alten Machtverhältnisse wiederherzustellen. Der Begriff «politionele acties» (polizeiliche Aktionen) steht euphemistisch für einen Krieg, der 100 000 Indonesier:innen und 5000 niederländische Militärs das Leben kostete. Erst 1949 akzeptierten die Niederlande Indonesiens Unabhängigkeit.
Die Ausstellung ist nicht unumstritten. Viele ihrer Exponate wurden von niederländischen Soldaten beschlagnahmt. Und eine grundsätzliche Kritik am Kolonialsystem vor dem Unabhängigkeitskrieg kommt eher zaghaft zum Ausdruck. Hier und da schimmert selbst die romantisierende Sichtweise auf das tropische Leben der privilegierten Bevölkerungsgruppen durch, die den hiesigen Blick auf Indonesien bis heute prägt. Dennoch weicht «Revolusi!» von der bisherigen Lesart ab, die jene besagte Gruppen als vorrangige Opfer hervorhebt, weil sie unter japanischer Besatzung interniert wurden und danach ins Visier des nationalistischen Furors gerieten.
Stimmen, die einen kritischeren Blick auf die Verhältnisse im einstigen Niederländisch-Indien werfen, finden in der breiten Öffentlichkeit hingegen wenig Gehör. Eine Ausnahme bildet der Historiker Reggie Baay, der 2015 das Buch «Daar werd wat gruwelijks verricht» (Dort wurde etwas Schreckliches vollbracht) über Sklaverei im Geburtsland seiner Eltern publizierte. Der Titel ist eine Anspielung auf ein Zitat von Jan Pieterszoon Coen, dem ob seiner äusserst gewaltsamen Unterwerfung der Bandainseln berüchtigten Gouverneur der VOC, der in Indonesien «Grosses vollbringen» wollte.
Zu Bittstellern degradiert
Der Report, an dem unter anderem das renommierte Institut für Kriegs-, Holocaust- und Genozidstudien (NIOD) beteiligt war, kommt laut Baay siebzig Jahre zu spät, da der niederländische Staat bisher jede Verantwortung abgestritten habe. Zudem kritisiert er, dass der Fokus allein auf der Zeit des Unabhängigkeitskriegs liege. «Dabei ging diesem eine koloniale Periode von 350 Jahren voraus, in der vor allem seit Beginn des 20. Jahrhunderts hart gegen Unabhängigkeitsbestrebungen vorgegangen wurde», sagt Baay beim Telefongespräch.
Reggie Baay beklagt einen «eklatanten Mangel an historischem Verständnis». Unwillkürlich rufen diese Worte den früheren Premier Jan Peter Balkenende in Erinnerung, der seinem Land 2006 eine Rückbesinnung auf die «VOC-Mentalität» empfahl. Die Handelsgesellschaft kontrollierte ab dem 17. Jahrhundert von Jakarta aus den Gewürzhandel. Dass sie wirtschaftlichen Belangen gerne mit Gewalt Nachdruck verlieh, wird bis heute ausgeblendet. «Vor allem die jüngeren Generationen wissen oft nicht einmal, dass es eine Kolonie namens Niederländisch-Indien gab», stellt Baay fest.
Auch die bekannte Sängerin Julya Lo’ko, deren Eltern 1951 nach wochenlanger Schiffsreise auf Initiative der hiesigen Regierung aus Indonesien in den Niederlanden ankamen, hat nicht den Eindruck, dass sich die Umgebung, in der sie aufwuchs, für ihren Hintergrund sonderlich interessierte. «Auf einmal war da eine Gruppe Menschen aus Indonesien», erzählt sie über die Periode kurz nach der Unabhängigkeit. «Man wusste natürlich, dass die Niederlande mit diesem Land etwas zu tun haben, aber nicht, wieso diese Leute nun hierherkommen.»
«Diese Leute» sind in ihrem Fall zehn kinderreiche Familien molukkischer Marinemitglieder, die im pittoresken Dorf Loosdrecht bei Hilversum untergebracht wurden. Stationiert am nahen Marinestützpunkt, waren sie privilegiert gegenüber den Soldaten des Kolonialheers KNIL: Auch dieses bestand zu einem grossen Teil aus Männern von den im Osten Indonesiens gelegenen molukkischen Inseln, die schon früh kolonisiert und teils christianisiert worden waren. Auch KNIL-Militärs wurden nach der Unabhängigkeit nach Europa gebracht, mussten hier aber zunächst in Baracken leben und eine neue Arbeit suchen. Die Degradierung vom Kolonialsoldaten zum Bittsteller prägte Tausende molukkische Übersiedler und ihre Familien in den Niederlanden.
Obwohl ihre direkte Umgebung diese Erfahrung nicht teilt, wächst Julya Lo’ko im Bewusstsein auf, molukkisch zu sein. Rassistische Bemerkungen wie «Geh zurück in dein eigenes Land» oder die Anrede als «pinda» (Erdnuss) belasten sie nicht sonderlich. Wohl verändert sie in der Grundschule in einem Aufsatz, den sie im Geschichtsunterricht vorlesen soll, die Worte «unsere Königin» spontan in «eure Königin». Sie bewegt sich vor allem in der Gruppe der molukkischen Kinder aus dem Dorf, kommt über die älteren Geschwister früh mit Musik in Berührung und beginnt mit vierzehn, in der Band eines ihrer Brüder zu singen.
Kurz nach Erscheinen der ersten Single entführen molukkische Altersgenossen 1977 im Norden der Niederlande aus Protest gegen ihre Situation einen Zug und halten die Passagier:innen knapp drei Wochen lang als Geiseln. Als Sondereinheiten den Zug stürmen, werden zwei Geiseln und sechs junge Molukker getötet. Julya Lo’ko geht wie die meisten Molukker:innen zum Begräbnis; auch beim Prozess der überlebenden Entführer ist sie anwesend und trägt ein Transparent, auf dem sie dazu aufruft, das Schicksal der einstigen Soldatenfamilien nicht zu vergessen. «Dabei ging es nicht darum, ihre Gewalt schönzureden», sagt Lo’ko. «Aber man sollte nicht vergessen, warum sie das taten. Es gibt Ursache und Wirkung.»
Noch immer dieses Glattbügeln
Jeffry Pondaag zuckt, wenn es um die Geschichte niederländischer Molukker:innen geht, nur mit den Schultern. «Das ist inhärent. So wird man vom Kolonisator eben behandelt», sagt er lapidar. Pondaag legt Wert darauf, Indonesier zu sein und kein «indischer Niederländer». Er ist der Vorsitzende des 2005 gegründeten Komitees Niederländischer Ehrenschulden. Die Stiftung vertritt gemäss Eigenbeschrieb «die Interessen indonesischer ziviler Opfer, die während der niederländischen Kolonialzeit unter von niederländischen Militärs begangenen Kriegsverbrechen litten».
Zahlreiche Prozesse wurden seither geführt, unter anderem gegen noch lebende Militärs, die 1947 beim Massaker im Dorf Rawagede, dem heutigen Bolongsari in der Provinz Westjava, beteiligt waren, und Entschädigungen für die Opfer erstritten. Zum Termin mit der WOZ hat Pondaag vier Fotos mitgebracht, die aus dem Acehkrieg um 1900 stammen. Sie zeigen Tote und Verwundete zwischen Palmen und Hütten, KNIL-Soldaten posieren davor. «Ist das nicht deutlich genug? Sind das keine Kriegsverbrechen?»
Auch drei Plastiktütchen zieht Pondaag aus seiner Tasche: Nelke, schwarzer Pfeffer, Muskatnüsse, Gewürze, auf denen einst die niederländische Dominanz im Welthandel basierte. «Heute vergisst man hier, dass dieses Land seinen Reichtum mit Blut an den Händen erlangte, und zwar 350 Jahre lang.» Auch dass das unabhängige Indonesien zur Übernahme von viereinhalb Milliarden Gulden kolonialer Schulden genötigt wurde, macht ihn wütend: «Die Niederlande sind im Unrecht. Punkt. Wie kommen sie dazu, zu denken, dass ein Land, das 18 000 Kilometer entfernt liegt, ihnen gehört?»
Dass sich im öffentlichen Bewusstsein zum Thema Indonesien nun etwas verändern würde, sieht Pondaag nicht. In Teilen, räumt er ein, komme zwar Bewegung in die Debatte – strukturell aber bleibe alles beim Alten. Als Beispiel nennt er gerade den Report vom Februar. «Dort ist von ‹extremer Gewalt› die Rede, aber nicht von ‹Kriegsverbrechen›», sagt Pondaag. «Dieses Wort haben sie vermieden. Das ist noch immer dieses Glattbügeln, das wir schon seit Jahrzehnten kennen.»