Pop: Reggaeton braucht keinen Daddy

Nr. 35 –

Chocolate Remix aus Argentinien schüttelt den männerdominierten Reggaeton einmal kräftig durch und nimmt ihm den Sexismus – aber nicht den Sex.

Reggaeton, diesen oft sexistischen Musikstil auf links drehen: Chocolate Remix geht ihre Themen humorvoll an, aber ernst ist es ihr doch. Foto: Norman Ulla

Auf der Bühne der Berner Rössli-Bar steht eine kleine Frau in schwarzem Hemd mit Flammenaufdruck, dazu passender Hose und mit einer riesigen orangen Sonnenbrille. «Te dije que no!» (Nein, hab ich gesagt!), ruft Chocolate Remix ins Publikum, das ausgelassen mittanzt. Zwei Tänzerinnen neben, die DJ hinter ihr – alle in knappsten Tops, engen Hosen, stark geschminkt – tanzen Perreo, einen lateinamerikanischen Verwandten des hierzulande bekannteren Twerking.

Es ist ein seltsamer Moment: zu merken, dass einen diese Aufmachung gar nicht stört, in diesem Kontext. Etwa weil später am Abend ein Song wie «Ni una menos» (Nicht eine weniger) gespielt wird, der sich auf die gleichnamige Frauenrechtsbewegung gegen Femizid in Argentinien bezieht. Perreo zur feministischen Hymne, das wirkt im Gegenteil extrem selbstermächtigend: Der Sex bleibt, nicht aber der Sexismus.

Romina Bernardo, so der bürgerliche Name von Chocolate Remix, hat sich ihren Charakter 2013 ausgedacht, ursprünglich als Internetfigur – aber dann wurde ihr die Musik doch immer wichtiger. 2017 hat Chocolate Remix ihre erste EP, «Sátira» (Satire), veröffentlicht. Gerade ist sie mit ihrem lesbischen Reggaeton in Europa auf Tour, letzte Woche war sie in der Schweiz.

Alle küssen sich

Es war eigentlich als Witz gedacht: Reggaeton, diesen beliebten, oft homophoben und sexistischen Musikstil, einmal auf links zu drehen. Verwandt mit Reggae und traditionellen lateinamerikanischen Musikrichtungen, gewürzt mit elektronischen Beats, entstand Reggaeton Anfang der neunziger Jahre in den Armenvierteln Lateinamerikas. «Im Reggaeton geht es um Sex», sagt Bernardo, die Frage sei nur: Wer spricht, und worüber? «Viele Frauen haben sich daran gewöhnt, nicht über Sex zu sprechen – auch durch den Einfluss der Kirche», sagt Bernardo. Dieses Tabu wolle sie brechen: Im Reggaeton geht es vor allem um Sex? Na gut, dann schauen wir doch mal, welche Perspektiven es da noch geben könnte ausser einer heteromännlichen.

Bernardo geht ihre Themen humorvoll an, aber ernst ist es ihr doch. Spätestens im Clip zu «Ni una menos» vergeht einem das Lachen: Knapp drei Minuten lang sehen wir Bernardos Gesicht, das immer schlimmer zugerichtet wird, voller blauer Flecken und blutiger Schrammen. Gewalt gegen Frauen ist traurige Realität in Argentinien, wo alle 35 Stunden eine Frau getötet wird.

Neben dem Chocolate-Remix-Projekt arbeitet Bernardo auch als DJ. Wie macht sie das mit sexistischen Reggaeton-Tracks, wenn sie an einer Party auflegt? Es komme ganz auf das Publikum an, sagt sie. Bei einem jungen, eher unpolitischen schaue sie stärker darauf, andere Inputs zu geben, mehr Songs von Frauen zu spielen etwa. Aber an einer Queerparty sei das etwas anderes: «Manchmal lege ich an reinen Lesbenpartys auf und spiele die ganzen alten Songs, die nun mal oft sexistisch sind. Wenn sich dazu alle küssen, tanzen und sich anfassen: Wieso nicht?» Das sei auch eine pragmatische Art der Aneignung: Es seien oft einfach zu gute Beats und Flows, um darauf zu verzichten.

Am eigenen Konzert spielt Chocolate Remix ein Cover von «Gasolina», dem Nullerjahreüberhit von Daddy Yankee, mit dem Reggaeton damals endgültig auch an Europas Strände und in den Mainstream schwappte. Und sie verpasst Shabba Ranks’ «Dem Bow» von 1991, das gern als Ursprung des Reggaeton bezeichnet wird, einen neuen Text: «Bow» ist eine abwertende Bezeichnung für Homosexuelle und Queers im Allgemeinen, die mit «Dem» von sich gewiesen werden – die sind schwul, wir nicht. Shabba Ranks verbindet das auf perfide Weise mit seiner antikolonialistischen Haltung: Wer schwul ist, bücke sich und nehme damit eine analoge Position der Unterwerfung ein wie gegenüber den Kolonialherren. Aus «Dem Bow» wird bei Chocolate Remix «Bien Bow» – eine Umkehrung ins Positive. Diese Aneignung über Covers und Umschreibungen funktioniert vor allem auch deshalb so gut, weil Chocolate Remix nicht einfach nur eine witzige Idee ist, sondern Bernardo hervorragend rappen kann.

Wie es ihr gefällt

«Einige schockiert es vielleicht, eine Frau so explizit reden zu hören», sagt sie, «aber mir geht es gerade um diesen Spass.» Dabei stösst Chocolate Remix nicht nur auf offene Ohren, wenn sie Sexualität so explizit ausformuliert und darstellt. Auch von FeministInnen wurde sie dafür kritisiert: Im Grunde mache sie auf der Bühne und in ihren Videos nichts anderes, als Frauen ihrerseits auf Objekte zu reduzieren. Stimmt das? Bernardo sagt, sie sei nicht in der Position, zu bestimmen, wer wie tanze. «Auf der Bühne und bei unseren Drehs entscheiden wir alle selbst, wie wir uns inszenieren. Wer sexy tanzen will, soll das tun, ich habe damit kein Problem.» Ziemlich auf den Punkt gebracht hat sie es sowieso schon im Song «Como me gusta a mí» (Wie es mir gefällt). Darin spielt sie ihre sexuellen Vorlieben durch, mit einem sehr sexy Video dazu übrigens: «Que esto es reggaeton, mami, esto no es folclore» – weil das hier Reggaeton ist, keine Volksmusik.

Chocolate Remix: Sátira. Shewa Music. 2017