Reggaeton: Orgasmen tanzen

Nr. 29 –

Von seinen afrokaribischen Anfängen ist der Reggaeton zu einem der populärsten Musikgenres weltweit aufgestiegen – und zum Modell für den heutigen Pop geworden.

Heisser Sound mit anrüchigem Image: Ein Paar beim Tanzen im Club The Noise, dem Geburtsort des Reggaeton, in Old San Juan, Puerto Rico. Foto: Everynight Images, Alamy

Ist es noch Reggaeton, wenn es eher wie Krieg als wie Party klingt? Jedenfalls bürstet die venezolanische Produzentin Arca diese verführerische Tanzmusik in «KLK» auf ihrem kürzlich erschienenen Album «Kick I» ordentlich gegen den Strich. Der Rhythmus und die Stimme der Flamencosängerin Rosalía locken, doch die garstigen Sounds und die Geräusche von Schusswaffen schrecken ab. Es ist, als wollte Arca dem Reggaeton damit ein Stück seiner gefährlichen Aura zurückgeben, die dieser auf seinem Weg in den Popmainstream verloren hat.

Heute dringt Reggaeton nicht nur aus zahlreichen Bars an der Zürcher Langstrasse, er ist eines der populärsten Musikgenres weltweit. Unter den fünfzehn KünstlerInnen mit den meisten Streams auf Spotify sind vier Reggaetonsänger, drei davon aus dem winzigen Puerto Rico. Das Video zu «Despacito», dem Welthit der beiden gebürtigen Puerto-Ricaner Luis Fonsi und Daddy Yankee von 2017, ist mit gegen sieben Milliarden Klicks immer noch das populärste auf Youtube. Doch Reggaeton ist nicht nur selber in den Mainstream aufgestiegen, er hat diesen auch geprägt – Mitte der zehner Jahre tauchten dort plötzlich überall reggaetonähnliche Latinbeats auf, von Sia über Drake bis zu den Chainsmokers.

Kriminell und freizügig

In Puerto Rico war Reggaeton in den neunziger Jahren – damals wurde das Genre noch vorwiegend einfach «Underground» genannt – die Musik der schwarzen Unterschicht und wurde wegen seines expliziten Umgangs mit Sex, Drogen und Gewalt staatlich bekämpft. Die Tapes kursierten in informellen Netzwerken ausserhalb der Musikindustrie und entgingen so der Zensur. Nachdem Underground auch kommerziell verfügbar und in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, stürmte die puerto-ricanische Polizei 1995 sechs Plattenläden in der Region der Hauptstadt San Juan und beschlagnahmte Hunderte Tonträger. Die konservative US-Organisation Morality in Media hatte gewarnt, diese Musik fördere die Kriminalität und die sexuelle Freizügigkeit der Jugend.

Schön bedient wird dieses anrüchige Image in «Ema y Gastón», dem letzten Film des chilenischen Regisseurs Pablo Larraín. In einer Szene verfällt der Choreograf Gastón vor seiner abtrünnigen Partnerin Ema, die mit ihrer Frauengang auf den Strassen Reggaeton tanzt, in eine Tirade: Diese primitive, versexte Strassenmusik treibe sie doch nur in die Arme eines gewalttätigen Machos. Er äfft den typischen Rhythmus des Reggaeton nach: «boom, cha boom cha». Die Tänzerinnen schauen gelangweilt zu, bis eine von ihnen antwortet: «Auch du bist mit einem Orgasmus gezeugt worden, beim Tanzen kannst du das spüren.»

Er hat ja auch nicht ganz unrecht, dieser Gastón. Die meisten Reggaetonsongs sind nach dem immer gleichen Schema aufgebaut: eine fette Kickdrum auf jeden Schlag, dazwischen die Snaredrum, abwechselnd in der Mitte zweier Kickschläge oder leicht nach hinten versetzt. Die Verschiebung der Snareschläge gegen die konstante Kickdrum entfaltet in der Wiederholung eine hypnotische Wirkung und verführt zum Tanzen. Dazu kommen ein paar rhythmische Verzierungen und Akzente, melodische Synthesizer sowie Raps oder schnulziger Gesang auf Spanisch. Die Stimmung: stets auf Party und gute Laune gedreht.

Trapbeat statt Strick

Vielleicht hat sich Bad Bunny, derzeit einer der erfolgreichsten Reggaetonsänger, einen kleinen Scherz über diese penetrante Fröhlichkeit erlauben wollen. Jedenfalls ist es ein interessanter Einfall, eine Partyplatte mit einem geplanten Suizid zu beginnen. Im Video zu «Si veo a tu mamá», dem ersten Song seines im Februar erschienenen Albums «YHLQMDLG», sehen wir einen Mann auf einer Hausparty; er tanzt aber nicht, sondern macht Anstalten, sich mit einem Strick zu erhängen. Ein Junge kommt angelaufen und verrät dem Mann, was gegen die Traurigkeit helfe: Bad Bunny hören. Dann erklingt die Melodie des Bossa-Nova-Klassikers «The Girl from Ipanema», dazu ein federleichter Trapbeat.

«YHLQMDLG» ist ein faszinierendes Album. Nicht nur, weil Bad Bunny, der sich öffentlich für LGBT-Rechte einsetzt, ohne die im Reggaeton verbreiteten sexistischen Bilder und Texte auskommt. Im Video zu «Yo perreo sola» tritt der 26-Jährige gar als Dragqueen auf und bewegt die Lippen, während eine Frau davon singt, dass sie lieber alleine tanze. Die Musik auf diesem Album wird dafür gefeiert, wie sie massentauglichen Reggaeton mit einem musikhistorischen Bewusstsein verbindet – so etwas hat man bisher nicht gehört. Das beste Beispiel dafür ist «Safaera», das Herzstück des Albums: Eher eine Suite als ein Song, führt das Stück in fünf Minuten durch zahlreiche Beats und Rapflows, gesampelt werden neben klassischen Reggaetonsongs auch Bob Marley und Missy Elliott.

Reggae und Hip-Hop klingen hier nicht zufällig an, sie verweisen auf die Anfangszeit des Reggaeton in den Neunzigern, als die beiden Stile in Puerto Rico zu etwas Neuem verbunden wurden. Der damalige Underground war nicht nur eine Bedrohung für die politische Obrigkeit, er war vor allem auch eine musikalisch fruchtbare Subkultur. Die bruchstückhafte Collage von Bad Bunnys «Safaera» erinnert daran, wie ProduzentInnen wie DJ Playero oder DJ Nelson, der Arbeitsweise von New Yorker Hip-Hop-Produzenten nachempfunden, sehr frei mit Drumloops hantierten, die ursprünglich aus dem jamaikanischen Dancehall stammten. Die Tapes aus dieser Zeit klingen ungestüm und roh, mischen unzählige Samples mit wechselnden Beats und halsbrecherischen spanischen Raps.

Über Samples, Covers und Musikvideos stellten die puerto-ricanischen ProduzentInnen immer wieder Referenzen zu New York her – nicht nur wegen des Hip-Hop, sondern auch wegen der Verbindungen zwischen den verschiedenen karibischen Communitys, die dort alle nebeneinander lebten. Die Geschichte des Reggaeton ist von Beginn an transnational: Die jamaikanische Diaspora in Panama, die wegen des Baus von Grossprojekten wie dem Panamakanal schon lange dort lebte, importierte besagte Drumloops aus Jamaika und rappte darüber auf Spanisch. Die bekannteste Vorlage war Shabba Ranks’ Song «Dem Bow», dessen Titel lange als Bezeichnung für den Reggaetonbeat diente. Bis heute basieren die meisten Reggaetonsongs auf x-fach bearbeiteten Versionen von Drumloops aus der panamaischen Aneignung des Dancehall. Sogar in einem Welthit wie Shakiras «Hips Don’t Lie» ist noch ein solcher zu hören.

Panlatinische Tanzmusik

Die Bezeichnung «Reggaeton» verbreitete sich Anfang der nuller Jahre, kurz bevor Daddy Yankee das Genre mit seinem Hit «Gasolina» in weiten Teilen der Welt bekannt machte. Die Popularisierung des Reggaeton bedeutete nicht nur eine Abkehr von der lebendigen Samplingkultur in Puerto Rico und eine Annäherung an den Pop, das Label diente auch dessen Vermarktung als panlatinische sexy Tanzmusik. Exemplarisch dafür steht das Video zu N.O.R.E.s Hit «Oye mi canto» von 2004, in dem Frauen sich in Bikinis am Strand aufreihen, jede mit einer Landesflagge aus der Karibik oder Südamerika. Verdeckt wurde durch diese lateinamerikanische Solidarität der afrokaribische Ursprung des Reggaeton, für den in den neunziger Jahren noch Namen wie «melaza» (Melasse), «petróleo» (Erdöl) oder «música negra» (schwarze Musik) gebräuchlich waren, die auf die schwarze Unterschicht verwiesen.

Mit seiner Verbreitung wurde der Reggaeton zwar weisser, aber auch inklusiver. Die Chilenin Tomasa del Real oder die Argentinierin Ms. Nina etwa sprengen das patriarchale Korsett des Reggaeton, gerade indem sie dessen aggressive sexuelle Energie mobilisieren. Solche Weiterführungen sind nur konsequent, war der Reggaeton doch schon immer eine hybride Tradition, die sich über einen Zeitraum von dreissig Jahren immer wieder an ein paar Drumsounds entzündete.