Zürich: Was bringt ein klimabewegter Regierungsrat?
Im März schaffte der Grüne Martin Neukom die Sensation und schnappte der FDP einen Sitz im Zürcher Regierungsrat weg. Der Solarspezialist und Ingenieur muss die klimapolitische Wende im Kanton entscheidend voranbringen – die Voraussetzungen waren noch nie besser.
Hundert Tage im Amt. Martin Neukom zieht vergangene Woche vor der Presse eine erste Bilanz. So weit, so normal. Gewöhnungsbedürftig ist Neukoms jugendliche Erscheinung in einem meist grauen Gremium. Er ist nicht gezeichnet und abgeschliffen von der politischen Ochsentour.
Aus dem Rahmen fällt auch der Aufbau der Pressekonferenz: Neukom widmet sich zunächst den MitarbeiterInnen des Baudepartements. Auf die Leinwand projiziert er Fotos: Neukom im Autotunnel, Neukom im Naturschutzgebiet am Mäher, Neukom im Kreis von Strassenarbeitern. Die Botschaft: Da ist ein Chef nahbar, er will den Arbeitsalltag der 1600 MitarbeiterInnen dieses grossen Ladens kennenlernen. Und die Leute offensichtlich mitnehmen auf die von seiner WählerInnenschaft erwartete, ambitionierte klimapolitische Reise.
Die Wahl des grünen Politikers könnte sich als Glücksfall für den Kanton Zürich erweisen. Er regiert das umweltpolitische Schlüsselressort. Zudem hat im Parlament seit dem Frühjahr eine links-grüne Mehrheit das Sagen. Diese unterstützte die Ausrufung des Klimanotstands und hat diese Woche die Verkehrspolitik im Kanton etwas zeitgemässer ausgerichtet; einige Schritte weg vom Auto hin zu mehr ÖV, Velo- und Fussverkehr. Bessere Voraussetzungen für eine klimapolitische Wende als der Regierungsratsneuling hatten bislang nur wenige kantonale MagistratInnen in der Schweiz. Daran ist Martin Neukom in vier Jahren zu messen.
Die Ankündigungen
Hundert Tage im Amt. Der 32-jährige Neukom spricht von einer langfristigen Klimastrategie, die weit über eine Legislatur hinauswirken soll. Er verfolge dabei einen Ansatz von unten, von den Menschen her: Wie geht das neue Leben, ohne fossile Energie?, sei zu fragen. Aber fairerweise kann die Öffentlichkeit noch nicht mehr erwarten als vage Ankündigungen. Ein grosser Wurf ist (noch) nicht in Sicht. Klimapolitisch und ökologisch von Bedeutung sind folgende angekündigten Vorhaben:
- Ein «ambitioniertes» Förderprogramm für Gebäudesanierungen. In der Schweiz gehören Gebäude nach dem Verkehr vor allem wegen fossil betriebener Heizungen zu den grössten CO2-Emittenten (Anteil Verkehr: 32 Prozent, Anteil Gebäude: 26 Prozent). Ein solches Programm tut auch not. Der Kanton Zürich liegt hier im Vergleich mit anderen Kantonen im Hintertreffen.
- Ein emissionsfreier Fahrzeugpark im Baudepartement. Das Tiefbauamt hat bereits elektrische Strassenreinigungsfahrzeuge getestet. Ihre Reichweite ist allerdings noch nicht ausreichend. Neukoms Departement arbeitet an einem Zeitplan, um die Flotte schrittweise umzustellen.
- Noch in diesem Jahr will Neukom eine Vorlage zur Biodiversität präsentieren.
- Er will die Revitalisierung der Gewässer vorantreiben. Hier ist Zürich gegenüber den Vorgaben des Bundes im Rückstand.
- Eine Vorlage zur Temperaturreduktion auf sogenannten Hitzeinseln (dort, wo im urbanen Raum wegen Versiegelung und zu wenig Grünflächen deutlich höhere Temperaturen gemessen werden) ist in Vorbereitung. Diese ist nicht auf Neukoms Mist gewachsen. Der Kanton hat bereits im vergangenen Jahr die klimatische Situation im urbanen Raum umfassend analysiert und eine neue Klimakarte erstellt. Winterthur und die Stadt Zürich wollen diese Daten für einen Masterplan Stadtklima nutzen.
- Der Kanton als vorbildlicher Bauherr: Es soll vermehrt mit dem nachwachsenden Rohstoff Holz gebaut, Solarpanels auf Fassaden sollten angebracht und ein ambitioniertes und günstigeres Immobilienmanagement vorangetrieben werden.
Angesichts der beängstigenden Herausforderungen des Klimawandels, der rascher vor sich geht als von der Klimawissenschaft vorausgesagt, ist das wenig. Aber besser als nichts – es ist ein Anfang. So sieht es auch Nicola Siegrist. Der 22-jährige Klimaaktivist und Jungparlamentarier (Juso/SP) ist allerdings nicht euphorisch gestimmt. «Martin Neukom wurde von der Klimabewegung ins Amt gespült. Die Erwartungen dieser Menschen an ihn sind hoch. Er hat einen klaren Wählerauftrag. Die Voraussetzungen für ihn sind auf den ersten Blick durchaus günstig. Aber die politischen Verhältnisse sind nicht so eindeutig, wie es scheint.» Neukom müsse seine Vorlagen zunächst durch den immer noch bürgerlich dominierten Regierungsrat bringen. Und ob die Grünliberalen auch nach den National- und Ständeratswahlen mit SP, AL und Grünen stimmen, müsse sich erst noch weisen – vor allem, wenn es um die soziale Abfederung von klimapolitischen Massnahmen gehe. Für Siegrist sind radikale und rasche Massnahmen der richtige Weg: zum Beispiel ein Verbot von fossil betriebenen Heizungen bei Neubauten.
Es wird sehr eng
Dreissig Jahre. So viel Zeit bleibt höchstens, um das Schlimmste abzuwenden. Henrik Nordborg ist Professor an der Hochschule für Technik Rapperswil. Er hält neben seiner Lehrtätigkeit auch Vorträge zum Klimawandel. Der Physiker begrüsst die Wahl von PolitikerInnen, die die Bedrohung durch den Klimawandel anerkennen und griffige Massnahmen dagegen ergreifen. Mit dem Prinzip Freiwilligkeit und Selbstverantwortung komme man in dieser Frage offensichtlich nicht weiter. «Es geht viel zu langsam. Wir müssen sofort handeln, alle müssten ihr Konsumverhalten hinterfragen und rasch ändern.» Die Politik müsse wirksame Gesetze erlassen. «So gesehen sind die Wahl von Martin Neukom und der Mehrheitswechsel im Kantonsparlament ein hoffnungsvolles Zeichen.» Die Umstellung auf erneuerbare Energien sei ein Gebot der Stunde. Neukom sei in einer Position, in der er dringend nötige Bewusstseins- und Aufklärungsarbeit leisten könne. Aber die Herausforderungen seien gewaltig, die Mühlen der Demokratie träge. Wolle man bis 2050 in einer heute auf fossiler Energie basierenden Gesellschaft den CO2-Ausstoss auf null senken, müsse man auch ein neues Wirtschaftssystem entwickeln. «Es bleiben uns höchstens dreissig Jahre Zeit, das ist für einen Systemwechsel sehr, sehr knapp bemessen.»
Martin Neukom wird die Welt nicht retten. Aber viele Neukoms könnten einen Systemwechsel rascher herbeiführen. Und das läuft über Wahlen. Was also bringt ein klimabewegter Regierungsrat, eine klimabewegte Regierungsrätin? Regula Rytz, Präsidentin der Grünen Partei Schweiz, verweist auf Ständerat Robert Cramer, der bis 2009 in der Genfer Regierung wirkte. «Er hat sehr viel bewegt», sagt sie. Ein Beispiel: Genf führte 2005 ein Gesetz ein, das zur Deklaration der Herkunft und der Produktionsweise von landwirtschaftlichen Produkten verpflichtete. Das wirkte: Inzwischen bevorzugen rund achtzig Prozent der GenferInnen regional produzierte Produkte – ebenfalls ein Beitrag gegen den Klimawandel.
Über Neukom sagt Rytz: «Wir leben in einer Zeit der grosse Brüche, in der die alten Rezepte nicht mehr funktionieren. Martin Neukom gehört für mich zu einer neuen Gründergeneration von jungen Menschen, die die Schweiz mit Pioniergeist verändern, so wie im 19. Jahrhundert Ueli Ochsenbein, Henri Dufour oder Alfred Escher.»