Klimapolitik: Klimanotstand von Genf bis Liestal

Nr. 22 –

Forderungen der Klimabewegung, die vor einem halben Jahr noch als völlig utopisch abgetan wurden, werden jetzt in vielen Kantonen und Gemeinden ernsthaft diskutiert. Ist das reine Symbolpolitik, oder steckt mehr dahinter?

«Wir haben im letzten halben Jahr so viel erreicht, jetzt kann noch viel mehr kommen.» Der sechzehnjährige Schüler Jurek Fuchs aus Basel-Stadt ist seit Dezember in der Klimabewegung aktiv. Auch am weltweiten Streiktag vom letzten Freitag war er wieder mit dabei, als alleine in der Schweiz über 30 000 und weltweit über eine Million Menschen auf die Strasse gingen. Er gehört zu den SchülerInnen, deren Leben durch die internationale Protestbewegung auf den Kopf gestellt wurde: Plötzlich sitzt er in Komitees, organisiert Sitzungen, gibt Interviews. «Ich habe jetzt viel mehr zu tun», sagt er.

Ein halbes Jahr nach Beginn der Proteste ist klar: Die Klimastreiks beeindrucken die Politik wie kaum eine Protestbewegung der jüngeren Geschichte. Gesamtschweizerisch gingen am 15. März 65 000 Menschen auf die Strasse – eine Zahl, die nur vom Frauenstreik von 1991 und dem Landesstreik von 1918 übertroffen wird. In zahlreichen Kantonen und Gemeinden sind bereits Vorstösse im Sinne der Klimajugend angenommen worden. Ihre drei Hauptforderungen lauten: Ausrufung des nationalen Klimanotstands, Reduktion der Treibhausgase auf netto null bis 2030 sowie Klimagerechtigkeit. Das meint etwa eine Beteiligung der Schweiz an den Klimaschutz- und -vorsorgemassnahmen in Staaten, die besonders hart von der Klimakatastrophe getroffen werden.

Erstaunlich ist, dass unter den klimabewegten Regionen nicht nur Vorreiterinnen wie die Städte Zürich, Genf oder Bern sind: So hat letzte Woche etwa der Zuger Kantonsrat einen Vorstoss an seine Regierung überwiesen, der einen konkreten Massnahmenplan zur Bekämpfung des Klimawandels fordert. Während SVP und FDP den Vorstoss ablehnten, verhalf ihm die CVP zum Durchbruch. Auch auf Gemeindeebene gibt es überraschende Erfolge: Kleinstädte wie Liestal (BL), Wil (SG) oder Bülach (ZH) haben den Klimanotstand ausgerufen. Insgesamt sind in knapp zwanzig Gemeinden Vorstösse hängig oder bereits behandelt sowie in rund der Hälfte der Kantone. In fünf von sechs Kantonen, die bereits Vorstösse abschliessend behandelt haben, wurden diese angenommen.

Die Stadt Zürich als Vorreiterin

Sehr weit geht die Stadt Zürich: Dort verzichtete man zwar bisher auf die Ausrufung des Klimanotstands, dafür überwies der Gemeinderat letzte Woche eine Motion der Fraktionen SP, Grüne, GLP, AL und der Parlamentsgruppe EVP. Deren Ziel: «Netto null CO2-Emissionen bis 2030». Der Zürcher Stadtrat hatte sich zuvor für die Entgegennahme der Motion ausgesprochen und auch schon konkrete Handlungsfelder aufgezeigt. So will er den städtischen Fahrzeugpark konsequenter elektrifizieren, ein «Anschubprogramm Heizungsersatz» starten, die Beschaffung von Gütern und Dienstleistungen stärker reglementieren und die Verpflegung in städtischen Betrieben klimafreundlicher ausgestalten. Mittelfristig will die Stadt ein «Szenario null Tonnen CO2» präsentieren.

Doch an der Stadt Zürich lässt sich auch gut nachzeichnen, wo die Probleme liegen: Zürich hatte sich bereits mit der 2000-Watt-Gesellschaft (bis 2050) ein hohes Ziel gesteckt. Insgesamt ist sie mit einem Verbrauch von jährlich knapp 4000 Watt pro Person zwar auf Kurs. Das gilt aber nicht, wenn man die Treibhausemissionen betrachtet, die mit 4,7 Tonnen statt der angestrebten einen Tonne noch viel zu hoch sind. Dass man hier nun das Ziel verschärft und null Tonnen CO2-Ausstoss anstrebt, ist zwar löblich – aber einfacher wird es damit nicht. Und das liegt nicht nur am Konsumverhalten der einzelnen StädterInnen, die zu häufig um die Welt jetten. «Was es sicherlich sofort bräuchte, wäre ein Verbot von Ölheizungen in Neubauten», sagt Andreas Fischlin, Klimaforscher an der ETH Zürich und Vizepräsident des Weltklimarats. Dann müsste man flächendeckend Fotovoltaikanlagen installieren und den Verkehr, insbesondere den öffentlichen, auf CO2-frei umstellen.

Die städtischen Kompetenzen sind jedoch beschränkt: Ein Verbot von Ölheizungen liegt in der Kompetenz des Kantons. Und Fotovoltaikanlagen kann die Stadt den HausbesitzerInnen nicht aufzwingen. Was bleibt, sind Fördermassnahmen. So wollen etwa links-grüne GemeinderätInnen einen Fonds in Höhe von fünfzig Millionen Franken einrichten, um HausbesitzerInnen zu entschädigen, die ihre Immobilien auf nachhaltige Energie umrüsten. In Zürich aber gibt es rund 100 000 Häuser. Dominik Siegrist, Leiter des Kompetenzzentrums Infrastruktur und Lebensraum an der Hochschule für Technik Rapperswil, sagt: «Fünfzig Millionen reichen bei weitem nicht aus, um unter den Liegenschaftsbesitzern in der Stadt Zürich genügend Anreiz zu schaffen, dass bis 2030 ein Grossteil der Ölheizungen durch erneuerbare Energiesysteme ersetzt sein wird. Ich schätze, dass es dafür mindestens den zehnfachen Betrag braucht.»

Dazu kommt: Was die Stadt Zürich auf ihrem Boden an Treibhausgasen ausstösst, ist ein Bruchteil dessen, wofür der hiesige Finanzplatz mit seinen globalen Investitionen in fossile Energien verantwortlich ist. «Der Finanzplatz Schweiz finanziert 22-mal mehr Emissionen, als die Schweiz direkt produziert», sagt Markus Keller vom Verein fossil-free.ch. Der Finanzplatz Zürich aber bleibt – abgesehen von Fortschritten bei der städtischen Pensionskasse – unangetastet. Weil man die Hand, die einen füttere, nicht beisse, so Keller. Aber auch, weil die Stadt nur begrenzte Einflussmöglichkeiten habe. «Um die Finanzindustrie an die Leine zu legen, braucht es nationale und internationale Vorschriften.» Der Kurswechsel lässt sich also nicht so leicht erreichen, zumal eine echte Bekämpfung des Klimawandels einen grundlegenden Wandel bedingen würde, eine andere Art des Wirtschaftens, des Produzierens und des Konsumierens.

Allerdings: Reine Symbolpolitik ist das nicht, was die Kantone und Gemeinden derzeit angehen. Trotz aller Mängel halten KlimaexpertInnen die lokalen Erfolge für wichtig. Fischlin sagt: «Rumnörgeln bringt nichts mehr. Es ist fünf nach zwölf. Wir müssen jede Möglichkeit nutzen, die sich bietet. Je konsequenter die formulierten Ziele, desto grösser die Chance, dass wir das Machbare dann auch wirklich schaffen.»

Laut Keller geht es nun darum, den Druck hochzuhalten. Und Greenpeace-Sprecherin Yvonne Anliker formulierte es so: «Selbst wenn ein Kanton oder eine Gemeinde nur den Klimanotstand, der rechtlich nicht verbindlich ist, ausruft, hat das eine Wirkung. Als Konsequenz müssen die Prioritäten in der Verwaltung und der Politik völlig neu gesetzt werden. Der Schutz des Klimas muss bei jedem Projekt und jedem öffentlichen Auftrag im Zentrum stehen.»

Mehr als ein Hype

Der Historiker Ueli Haefeli hat ein Buch über die Umweltpolitik in der Schweiz geschrieben. Er sagt: «Sozialer Wandel passiert häufiger, als wir gemeinhin denken, schubartig.» Haefeli bezweifelt, dass die Klimaproteste lediglich ein kurzer Hype sind, wie viele KritikerInnen monieren. Er zieht einen Vergleich mit dem Beginn der internationalen Umweltbewegung, den er auf 1962 datiert: «Damals erschien das Buch ‹Silent Spring› der Biologin Rachel Carson.» Das Buch war eine Antwort auf das dramatische Vogelsterben, das der weltweite Einsatz des hochwirksamen Insektengifts DDT ausgelöst hatte. Dazu kamen in den Boomjahren nach 1960 Befürchtungen über negative Nebeneffekte des Wachstums wie die Gewässer- und die Luftverschmutzung. Dann sei es um 1970 sehr schnell gegangen, der Umweltschutz sei in aller Leute Munde gewesen.

«In der Politik schaffen es immer nur zwei, drei Themen zur gleichen Zeit auf die Agenda», sagt Haefeli, «alle anderen kann man nicht produktiv behandeln.» Umweltthemen hätten es besonders schwer, weil die Leute sich etwa von den Auswirkungen des Klimawandels nicht persönlich betroffen fühlten. «Das war nur beim Waldsterben anders, als man mit dem Slogan ‹Erst trifft es den Wald, dann uns› mobilisieren konnte.» Gelinge das nicht, brauche es ein Momentum wie dieses: «Greta Thunberg, das Mädchen aus Schweden, den letzten Hitzesommer, die Stürme», so Haefeli.

Auch Yvonne Anliker sagt: «Es war noch nie einfach, Umweltthemen Gehör zu verschaffen.» In der aktuellen Legislaturperiode aber habe in Bundesbern «eine beängstigende Ignoranz gegenüber der derzeit grössten Herausforderung» geherrscht. Das zeigte sich etwa an der völligen Verwässerung des CO2-Gesetzes durch die Nationalratsmehrheit. Anliker findet es deshalb logisch, dass die Jugend begonnen habe, auf die Strasse zu gehen, um eine Kursänderung einzufordern. Die heutige Jugend müsse schliesslich am längsten mit den Auswirkungen der Klimaerhitzung leben. Anliker nennt als zusätzlichen Mobilisierungsgrund für die Schweizer Klimaproteste den sehr deutlichen Weltklimabericht vom letzten Oktober.

Grüne Welle

Im Schweizer Wahljahr kann sich nun keine Partei mehr um das Klimathema foutieren. Zwar ist das plötzliche Interesse am Klima bei vielen bürgerlichen PolitikerInnen bloss ein Lippenbekenntnis. Das zeigt sich, wenn konkrete Klimavorstösse, etwa für eine Flugticketabgabe, reihenweise abgeschmettert werden – oder wenn die FDP nach der medienwirksam inszenierten Klimakehrtwende vor «wirtschaftsschädlichen» Positionen zurückschreckt. Das aber wird sich auf die Wahlen im Herbst auswirken, die Parteien werden nun an ihrer Klimapolitik gemessen. Das belegen die jüngsten kantonalen Wahlen. So haben die Grünen in den Kantonen Zürich, Basel-Stadt und Luzern deutlich zugelegt. Auch die Europawahlen vom Wochenende bestätigen diesen Trend, grüne Parteien in Ländern wie Deutschland, Frankreich, Finnland und Irland konnten massive Zugewinne feiern.

Und es gibt durchaus auch bürgerliche Einsicht: Der Wiler CVP-Stadtparlamentarier Christoph Hürsch, dessen Fraktion in der Provinzstadt zumindest einem leicht abgeschwächten Klimanotstand zum Durchbruch verhalf, sagt jedenfalls: «Dass die Jugendlichen das Thema hochgebracht haben, ist hervorragend. Das Klimageschirr wird uns um die Ohren fliegen, wenn wir nicht beginnen, die Notbremse zu ziehen.» Wählt die Schweiz im Herbst ein klimafreundlicheres Parlament, bekommt das versenkte CO2-Gesetz eine neue Chance. Hängig ist zudem ein Vorstoss von SP-Jungpolitikerin Samira Marti, die den nationalen Klimanotstand fordert.

Klimaaktivist Jurek Fuchs sagt, die Klimabewegung habe viele seiner MitstreiterInnen politisiert. Er selbst sei schon vorher «pro Klima» gewesen. Aber es habe nicht das Gefühl geherrscht, etwas verändern zu können. Jetzt fühle er sich viel weniger ohnmächtig. Und noch lange nicht bereit aufzugeben.