Durch den Monat mit Franco Cavalli (Teil 1): Sie wollen also einen linken Populismus?
Der Tessiner Krebsarzt Franco Cavalli will zurück in den Nationalrat. Der 76-Jährige tritt bei den Wahlen mit dem neu gegründeten «Forum Alternativo» an. Der SP wirft der Marxist Cüplisozialismus vor, er selbst fordert eine Politik der klaren Feindbilder.
WOZ: Franco Cavalli, Ihr Sohn hat mich eben mit einer Ausgabe der «Jungen Welt» unter dem Arm von der Bushaltestelle abgeholt. War das eine bewusste Provokation?
Franco Cavalli: Was soll ich sagen? Ich bin vom Charakter her schon ein bisschen ein Provokateur. Ich bin zwar überhaupt nicht mit allem einverstanden, was so in der Zeitung steht. Aber sie interessiert mich, weil sie als einziges deutsches Medium die Debatte innerhalb der Partei Die Linke abbildet.
Die «Junge Welt» titelte zum Fünfzig-Jahre-Jubiläum des Mauerbaus: «Wir sagen einfach mal Danke!»
Ja, im Fall der DDR sind sie viel zu nostalgisch.
Die Zeitung nimmt auch bei anderen Themen befremdliche Haltungen ein. Sie verteidigt etwa aus ihrer antiimperialistischen Logik heraus das Assad-Regime in Syrien.
Natürlich muss man mit Assad kritisch sein! Es gab aber in Syrien ab einem gewissen Zeitpunkt nur zwei Möglichkeiten: entweder Assad oder die islamischen Terroristen, und da konnte man sich doch nicht einfach enthalten. Man musste hoffen, dass Assad sie schlägt. Wer nun sagt, man hätte Assad stürzen müssen, der vergisst, dass der Westen im Nahen Osten seit fünfzig Jahren nur Desaster anrichtet. Weil er nicht an Demokratie interessiert ist, sondern im Grunde nur an Öl und Macht. Mich stört einfach – und das kritisiere ich manchmal auch an der WOZ –, dass gewisse Cüplisozialisten so tun, als gebe es keinen Imperialismus mehr. Das ist meiner Meinung nach auch der Grund, warum die Linke in Europa verliert. Sie bewirtschaftet nur noch postmoderne Themen.
Sie wollen mit Ihren 76 Jahren zurück in den Nationalrat und treten bei den Wahlen für das neu gegründete «Forum Alternativo» an. Was will die Organisation?
Wir haben uns vor vier Jahren im kleinen Kreis gegründet. Anfangs waren vor allem enttäuschte SPler sowie Leute aus der Gewerkschaft dabei, die mit dem Kurs der Sozialdemokraten nicht einverstanden sind. Weder im Tessin noch gesamtschweizerisch ist es uns gelungen, die SP mehr nach links zu bewegen. Also versuchen wir es nun ausserhalb. Wir wollen eine schlagfertige rot-grüne Bewegung auf die Beine stellen, die sich nicht in der regierungsbürokratischen Maschinerie verliert.
Sie waren von 1999 bis 2002 Fraktionschef der SP. Nach Ihrem Rücktritt aus dem Parlament beschimpften Sie die Partei als «denkfaule Funktionärspartei». Was machte Sie damals so wütend?
Das ist eine lange Geschichte. Ich war ja schon mit achtzehn der Tessiner SP beigetreten, zwei Jahre später schmissen Sie mich und ein paar andere raus, weil wir mit ihrer langjährigen Koalition mit der FDP nicht einverstanden waren. Die Autonome Sozialistische Partei, die wir dann im Tessin gründeten, trat in den Neunzigern entgegen meinem Votum wieder in die SP ein. 1995 wurde ich für die SP in den Nationalrat gewählt, 1999 war ich Fraktionschef. Ich habe im Parlament immer versucht, den linken Flügel der Partei zu mobilisieren. Der rechte Flügel hat mich deshalb bekämpft und am Schluss kaltgestellt. Das ist ihnen auch deshalb gelungen, weil ich genügend Angriffsfläche bot: Ich hatte den Job als Fraktionschef unterschätzt. Ich war überlastet, weil ich gleichzeitig Vollzeit als Chefarzt tätig war. Deshalb vergass ich manche Dinge, war nicht immer gut vorbereitet, trat nicht oft genug auf …
Sie finden also, die Schweiz brauche eine neue linke Kraft?
Ja, im Sinne von Bewegungen, wie es sie im Rest von Europa längst gibt. Podemos in Spanien etwa, Syriza in Griechenland, die Labour-Partei unter Jeremy Corbyn in Grossbritannien, La France insoumise oder auch Aufstehen in Deutschland. Denn sind wir ehrlich: Die klassische Sozialdemokratie ist tot.
Für die Schweiz gilt das doch eben gerade nicht: Die Sozialdemokratie lebt. Sie ist stabil, weil sie sich nie auf den «dritten Weg» eines Gerhard Schröder oder Toni Blair begeben hat.
Ja, die Überwindung des Kapitalismus steht sogar in den Statuten der SP. Das Problem ist aber, dass nur ein Teil der Partei danach handelt. Zuletzt diejenigen, die an den Hebeln der Macht sitzen. Nehmen wir etwa Simonetta Sommaruga oder viele SP-Regierungsräte – manche Exekutivpolitiker fahren durchaus einen blairistischen Kurs.
Der dezidiert linke Flügel dominiert aber die Partei. Er steht für einen progressiven Linkskurs, der die Klassenfrage mit Identitätspolitik verbindet. Sie hingegen fordern einen linken Populismus?
Linkspopulismus ist ja eine eher schwammige Kategorie. Ich würde eher sagen: eine neomarxistische Linke. Ich bin überzeugt, dass man Politik nur mit einem klaren Feindbild betreiben kann. Eine Bewegung kann nur erfolgreich sein, wenn sie die Probleme ein Stück weit zuspitzt. Wenn die Sozialdemokratie aufhört zu sagen: Unser Feind ist das Kapital, hat sie verloren. Wer die Klassenfrage nicht vordringlich stellt, macht keine linke Politik mehr. Das zweite grosse Problem, das wir haben, ist die Umweltfrage. Unsere Bewegung ist deshalb antikapitalistisch, grün und etwas linkspopulistisch.
Franco Cavalli rechnet sich mit seinem Bündnis im Tessin hohe Wahlchancen aus. Im Visier hat er einen Sitz der Lega, die bei den kantonalen Wahlen Verluste erlitten hat.