Von oben herab: Freie Schnauze
Ein Gastbeitrag von Thomas Hürlimann
Nichts darf man mehr sagen, gar nichts. «Mittlerweile gilt man in Deutschland bereits als Faschist, wenn man das Wort ‹Emigrant› verwendet», das wollte ich unbedingt einmal loswerden, aber da man nichts mehr sagen darf in unserer linken Moraldiktatur, habe ich es klandestin sagen müssen, im Interview mit dem «Tages-Anzeiger». Dafür bekomme ich jetzt bestimmt Morddrohungen! In meiner Fantasie zwar nur, aber die Fantasie eines Schriftstellers ist bekanntlich besonders lebendig: «Wissen Sie, ich habe in Berlin-Kreuzberg zehn Jahre in einer Mietskaserne gelebt, die von den Imams langsam islamisiert wurde. Auch war ich dort Patient bei einem türkischen Arzt. Er hat seine Kinder nach Istanbul aufs Gymnasium geschickt, weil ihm die Stimmung in Kreuzberg zu fundamentalistisch war.» Ist das nicht prima ausgedacht? Wos von Kreuzberg, falls es da wirklich zu türkisch wäre, doch viel schneller nach Charlottenburg ginge als nach Istanbul! Und die Türken (und eben nicht: TürkInnen!) Kreuzberg seit Jahren verlassen, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten können, was nur gerecht ist, denn wer den ganzen Tag auf der faulen Haut liegt und im Koran blättert, muss halt sehen, wo er bleibt.
Aber auch das darf man nicht mehr sagen oder nur in grossen Zeitungen oder Millionensellern wie denen von Thilo Sarrazin. «Lesen Sie mal nach, was in den Moscheen gepredigt wird, und spazieren Sie am Görlitzer Bahnhof vorbei, wenn der Gottesdienst zu Ende ist. Dann wird auch Ihnen dämmern, dass sich in unsere Kultur ein fremder Block hineinschiebt.» Man kann das nämlich nachlesen, was in den Moscheen gepredigt wird, z. B. bei Sarrazin, denn der sagt, was man nicht mehr sagen darf, und er bekommt sehr viel Geld dafür, viel mehr Geld als ich z. B., obwohl ichs ja nun wirklich versuche: «Heimkehr» heisst mein neues Buch, denn der linksliberale Mainstream ist das eine, der völkische Mainstream das andere, und in irgendeinen Strom muss der Schriftsteller sein Bötchen schliesslich setzen.
Da sind sich Schriftstellerei und Journalismus übrigens ähnlich. Beide wissen mit untrüglicher Sicherheit, wos warm herauskommt, was die Leute hören wollen. Denn mit Kunst, mit Literatur lassen sich Blumentöpfe nicht gewinnen, denn Literatur, das ist das Überraschende, Irritierende, Verstörende. Die Leute hassen das! Sie wollen ihre Ruhe und nicht behelligt werden, es sei denn mit der von professioneller Hand aufbereiteten eigenen Meinung, und die lautet, dass alles so bleiben soll, wie es der liebe Gott eingerichtet hat. Herrschaft, kann man bei Adorno lesen, wandert in die Menschen ein, und so sehr haben sie die Herrschaft verinnerlicht, dass sie ihre Verteidigung für einen Freiheitskampf halten. Und im Kampf ist nun mal alles erlaubt: «Letzthin trampelten bei einer Klima-Demo in Deutschland die Demonstranten einem Bauern übers Feld. Als der sich über den Schaden beklagte, liessen ihm die Organisatoren ausrichten, angesichts der globalen Katastrophe habe er die Schnauze zu halten. Pfui Teufel.» Ob das stimmt, so wörtlich? Und wenn es stimmt, beweist dann ein zertrampelter Acker, dass es allgemein zu viel Moral gibt?
Das sind aber schon wieder, siehe oben, zu komplizierte Fragen, und natürlich will auch der «Tagi» nicht, dass uns der Morgenkaffee sauer wird. Und deshalb schreibt die Chefredaktorin im «Tagi»-Newsletter: «Hürlimann hat recht. Wir erleben heute eine Übertreibung der ‹Political Correctness›. Dem öffentlich Sagbaren werden immer engere Grenzen gezogen. Auch dieser Tabuzwang hat den Rechtspopulisten zum Aufstieg verholfen.» Und das liest der Bürger, dem ich und Judith Wittwer die Ressentiments servieren, nun einmal gern: dass Faschismus etwas Linkes ist und nichts, wofür irgendein Biedermann etwas könnte. «Mir ist schon die Schweiz zu gross.»
Ich hoffe, das merkt man!
Thomas Hürlimann ist Schriftsteller, der sich nicht den Mund verbieten lässt. Weil er den ganzen Tag sagen muss, was man nicht sagen darf, hat er seinen Text aus Zeitgründen Stefan Gärtner diktiert.