Selim Özdogan: «Wenn du es nicht einmal als Nudel schaffst …»

Nr. 24 –

In seinem unterhaltsamen Roman «Wieso Heimat, ich wohne zur Miete» wirbelt der Kölner Autor Selim Özdogan gängige Klischees über nationale Identitäten durcheinander. Ein Gespräch über türkischen und deutschen Humor, Erwartungen an MigrantInnen im Literaturbetrieb – und über die richtige Ordnung im Pastaregal.

Selim Özdogan: «Seit zwanzig Jahren sind Leute damit beschäftigt, mir in meinen Namen reinzureden.»

WOZ: Selim Özdogan, in Ihrem Roman «Wieso Heimat, ich wohne zur Miete» kommt ein junger deutsch-türkischer Mann aus Deutschland nach Istanbul, um hier seine Identität zu suchen. In Istanbul lebt er in einer WG, doch er versteht den Humor seiner neuen Mitbewohner nicht. Ist man dort zu Hause, wo man den Humor versteht?
Selim Özdogan: Dass Krishna Mustafa die Witze seiner Mitbewohner nicht versteht, hat ja damit zu tun, dass sie einen Wissensvorsprung haben. Der kann kulturell bedingt sein, das ist aber nicht zwingend. Ich habe versucht, die verschiedenen Figuren mit unterschiedlichen Arten von Humor auszustatten. Was wohl nicht auffällt, aber für mich beim Schreiben lustig war und noch immer lustig ist: dass Krishna Mustafa, der in Deutschland aufgewachsen ist, mit seiner Art einen eher türkischen Humor zeigt, und sein Cousin Emre, der in der Türkei aufgewachsen ist und nun in Freiburg in Krishna Mustafas WG-Zimmer wohnt, einen eher deutschen Humor repräsentiert.

Was unterscheidet den deutschen und den türkischen Humor?
Natürlich sind Begriffe wie «deutscher» oder «türkischer» Humor sehr schwammig, es sind eher bestimmte Tendenzen, die ich erkennen kann. In der Türkei ist der Humor nicht so frontal und nicht so belehrend wie in Deutschland. Das wiederum hat nicht nur kulturelle, sondern auch politische Gründe. So gibt es in der Türkei nicht erst seit Erdogan, sondern schon seit Jahrzehnten die Möglichkeit der Strafverfolgung wegen Witzen und Satiren. Viele Satiriker haben im Knast gesessen, und das schon in den vierziger und fünfziger Jahren. Das zwingt einen ja auch dazu, ein bisschen weniger frontal zu sein beim Humor. Und Satire, wie ich sie in Deutschland kenne, ist sehr frontal, und wenn wir in diesen Satiriker-Kabarett-Bereich gehen, ist sie ja auch stets sehr moralisierend. Das heisst, es braucht vielleicht für eine gewisse Art von Humor eine gewisse Art von kulturellem Verständnis. Aber ich glaube nicht, dass wir das auf die Formel «Man ist da zu Hause, wo man den Humor versteht» bringen können.

Krishna Mustafas Mitbewohner in Istanbul sagt einmal: «Satire ist nicht mehr möglich in diesem Land, und ohne Satire gibt es auch keine Hoffnung.» Teilen Sie diese Einschätzung?
Nein, es gibt Satire, und es wird weiterhin auch Satire geben. Das Zitat beschreibt aber einen Zustand in diesem Land, der Satire schwierig macht, weil sie von der Realität ständig übertroffen wird. Ein Beispiel: Während einer Wahlnacht ist fast landesweit der Strom ausgefallen. Da stellt sich ein Politiker hin und erklärt, dass der Unterbruch durch eine Katze im Umspannwerk verursacht wurde. Das kann man ja nicht mehr persiflieren. Später bei der nächsten Wahl geht er an die Öffentlichkeit und sagt, man habe sichergestellt, dass keine Katzen mehr ins Umspannwerk kommen könnten. Wie will man aus dieser Situation noch eine Satire machen? Es ist fast nicht mehr möglich, das satirisch zu überbieten. Und solche Situationen gibt es in der Türkei regelmässig. Aber natürlich gibt es Satire, vielleicht weil es – diese Kausalkette funktioniert vielleicht auch so rum – noch Hoffnung gibt.

Haben Sie eigentlich einen guten Anwalt?
Nein, ich hab gar keinen Anwalt.

Ich frage, weil die Protagonisten Ihres Buchs ziemlich unmissverständlich den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan kritisieren. Da muss man sich zurzeit ja auf alles gefasst machen …
Der Roman ist ja nicht ins Türkische übersetzt. Und er ist auch noch kein Bestseller – von daher erfährt Erdogan wohl kaum etwas davon. Falls er es aber tatsächlich mitbekommt, bin ich einerseits in einer leichteren Lage als der deutsche Satiriker Jan Böhmermann, weil im Buch nichts drinsteht, was strafrechtlich relevant ist – zumindest nicht nach deutschen Gesetzen. Allerdings bin ich wiederum in einer schwierigeren Position als Böhmermann, weil ich keinen deutschen Pass habe. Das heisst, man kann mir allenfalls an der türkischen Grenze Probleme machen. Aber was soll mir schon passieren? Da sitzen mutigere Menschen als ich viel länger im Gefängnis, in völlig unberechtigter Untersuchungshaft.

Einen Anwalt könnten Sie allenfalls auch brauchen, um sich gegen den Vorwurf des Plagiats zu verteidigen, da Sie in einem Kapitel ganze Absätze von anderen Autoren übernehmen, unter anderem vom Schweizer Kabarettisten Andreas Thiel.
Da sind wir auf der sicheren Seite. Falls es doch Probleme geben würde, wäre der Verlagsanwalt zuständig. Ich hätte natürlich hinten im Buch eine Quellenangabe machen können. Aber da im Roman selber explizit erwähnt wird, dass es sich beim besagten Abschnitt um Zitate handelt, haben wir uns entschieden, das nicht zu tun. Ich wollte ja nicht noch mehr Werbung für Herrn Thiel machen.

Wie sind Sie eigentlich auf Andreas Thiel gekommen? Der ist ja in Deutschland nicht sehr bekannt.
Ja, der würde mir tatsächlich nicht einfach so über den Weg laufen … Ich kenne den Kabarettisten Jess Jochimsen, der vor einiger Zeit eine gemeinsame Tour mit Thiel absagte, weil er einen von Thiel verfassten Artikel in der «Weltwoche» über den Koran nicht tragbar fand. Als ich den Artikel dann selbst las, war ich erschüttert. Wie man für so etwas so viel Platz bekommen kann! Das Absurdeste daran ist, dass Thiel einfach hingeht und sagt: «Ich habe den Koran gelesen, jetzt bin ich Islamexperte und kann mir ein Urteil erlauben.» Das Äquivalent dazu wäre etwa: «Ich habe die Bibel gelesen, ich brauche nicht noch Theologie zu studieren.» Und unglaublich finde ich, dass das auch noch ernst genommen wird. Zu sagen, man habe den gesamten Thomas Bernhard gelesen, macht einen doch noch nicht zum Experten!

Sie selber werden von den Medien gerne als Experte angefragt, wenn es um Migration und Integration geht.
Ja, das sind tatsächlich Themen, zu denen ich zwangsweise zum Experten gemacht worden bin, ohne dass ich jemals ein Buch zum Thema gelesen habe. Ich kann bei irgendeiner Zeitung einen Artikel unterbringen, der irgendetwas mit Migration, Integration oder Islam zu tun hat, obwohl ich zum Beispiel vom Islam überhaupt keine Ahnung habe. Und dabei gäbe es so viele Themen, mit denen ich mich gut auskenne. Zum Beispiel Yoga. Mit diesem Thema kenne ich mich richtig gut aus. Doch zu diesem Thema werde ich nie angefragt.

Bei Ihrem aktuellen Buch ist allerdings klar, dass niemand kommt und sagt: «Herr Özdogan, lassen Sie uns über Yoga sprechen», schliesslich handelt Ihr Buch tatsächlich von Migration, Heimat, Identität und dem Verhältnis zwischen der Türkei und Deutschland.
Ja, jetzt passen diese Themen tatsächlich, und das ist vollkommen in Ordnung. Aber in einem grösseren Zeitraum betrachtet, sieht es aus, als würden diese Themen mein gesamtes Leben bestimmen, als ob dieses Buch nicht nur einer von vielen Romanen wäre, die ich geschrieben habe.

In Ihren ersten Romanen und Kurzgeschichten geht es weder um Migration noch um die Türkei; erst in späteren Büchern wie «Die Tochter des Schmieds» oder «Heimstrasse 52» und auch in Ihrem aktuellen Roman setzen Sie sich mit diesen Themen auseinander. Warum?
Zuerst war da eine Verweigerungshaltung, weil ich merkte, mit meinem Namen werden genau diese Themen von mir erwartet. Es war eine Verweigerungshaltung, die die Freiheit beansprucht, meine Themen selber zu wählen. Es hat sehr lange gedauert, bis ich verstanden habe, dass mich diese Verweigerungshaltung ja unfrei macht. Es war eine Trotzreaktion.

Als Sie vor zwanzig Jahren Ihr erstes Buch, «Es ist so einsam im Sattel, seit das Pferd tot ist», veröffentlichen wollten, riet Ihnen Ihr Verlag zu einem Pseudonym: Ihr Buch habe gar nichts mit Migration oder Integration zu tun, das würden die Leser jedoch bei Ihrem Namen erwarten. Wie reagierten Sie auf diesen Vorschlag?
Ich war damals sehr jung und hatte erschreckend wenig Ahnung vom Literaturbetrieb. Aufgrund dieser Unbedarftheit fand ich das damals nicht so richtig schlimm. Ich lehnte aber eine Namensänderung ab – aus Eitelkeit: Ich wollte, dass mein richtiger Name wieder erkannt wird, was im Nachhinein die richtige Entscheidung war, wenn auch aus den falschen Gründen.

Erleben Sie heute noch immer, dass an Ihren Namen bestimmte Erwartungen gekoppelt sind?
In diesen zwanzig Jahren, in denen ich nun veröffentliche, hat es sicher einen Bewusstseinswandel im Literaturbetrieb gegeben. Und trotzdem gibt es immer wieder Situationen, in denen mir die Leute aufgrund meines Namens einfach nicht auf gleicher Augenhöhe begegnen. Bereits der Vorschlag «Ändere doch deinen Namen» ist ja in erster Linie kein Vorschlag auf Augenhöhe. Sondern da ist jemand, der an meinem Namen herumdoktern will. Heute, zwanzig Jahre später, fragen mich die Leute, warum ich denn nicht dieses Häkchen über dem «g» in meinem Namen verwende, das da hingehören würde. Wir könnten das jetzt positiv deuten: Der Bewusstseinswandel geht nicht nur dahin, dass Leute meinen Namen auf dem Cover akzeptieren, unabhängig vom Inhalt, sondern dass sie ihn auch noch richtig geschrieben haben wollen. Die negative Interpretation ist jedoch: Seit zwanzig Jahren sind Leute damit beschäftigt, mir in meinen Namen reinzureden.

Das hat etwas Entmündigendes.
Ja, und ich werde mich mit diesem Namen auch nie vollständig in die deutsche Gesellschaft integrieren können, sosehr ich mich auch darum bemühe. Hier das einfachste Beispiel dafür: Ich bin Schriftsteller. Das ist ein Beruf, bei dem es völlig egal ist, welches Land dir einen Pass ausgestellt hat. Was zählt, ist die Sprache. Ich schreibe auf Deutsch. Also bin ich ein deutscher Schriftsteller. Wenn Sie bei Wikipedia die Liste der türkisch-deutschstämmigen Schriftsteller abrufen, können Sie da meinen Namen lesen.

Auf der Website des Ingeborg-Bachmann-Preislesens in Klagenfurt, wo Sie Ende Juni auftreten, werden Sie als türkischer Autor angekündigt.
Das finde ich total irritierend. Die wollten eine Passkopie haben. Dabei steht überall, dass ich in Deutschland geboren und aufgewachsen bin, doch das zählt offenbar nicht.

Bücher von Autoren mit Migrationshintergrund bezeichnen Verlage, Buchhandlungen und Zeitungen gerne als «Migrationsliteratur». Auch einige Ihrer Bücher fallen in diese Schublade. Was halten Sie davon?
Das ist ja sehr zweischneidig. Nun gibt es ja tatsächlich deutsche Autoren, die einen Migrationshintergrund haben, aber literarisch gibt es keine Klammer, die diese Literatur zusammenhalten könnte. Sie wird dann einfach «Migrationsliteratur» genannt. Doch was hat eine ethnische Klammer überhaupt in der Literatur zu suchen?

Dazu ein Vergleich, der von der Literatur wegführt: Ich habe den Chef einer Firma kennengelernt, die türkische Supermärkte in Europa mit türkischen Produkten beliefert. Er erzählte, dass er regelmässig Anfragen von deutschen Supermärkten bekomme, die ein türkisches Regal einrichten möchten. Doch er sagt, er beliefere die nicht. Als ich ihn fragte, warum nicht, meinte er: «Es interessiert mich doch nicht, in einem türkischen Regal in einem deutschen Supermarkt zu stehen. Leute, die Spezialitäten haben wollen, sollen in einen türkischen Supermarkt gehen. Was mich interessiert, ist, in einem deutschen Supermarkt meinen Reis beim Reis zu haben, meine Seife bei der Seife, mein Olivenöl beim Olivenöl.»

Wenn du es nicht mal als Nudel schaffst, dich in diese Gesellschaft zu integrieren, wie sollst du es dann als Mensch hinkriegen? Ausserdem zeigt das Beispiel schön, wie die Vermarktung innerhalb der Gesellschaft funktioniert: Ein türkisches Regal rentiert halt besser.

Und wenn wir nun von den Nahrungsmitteln zurück zur Literatur kommen …
Dann heisst das, dass wir anscheinend auch hier diese Schubladen brauchen. Auch wenn die Schubladen, die jemand in seinem Kopf für sich selber erfunden hat, erst mal gar nichts mit dir als Autor zu tun haben. Aber: Wenn du gut in eine dieser Schubladen reinpasst, bist du gut zu vermarkten. Damit müssen wir uns auseinandersetzen oder uns damit abfinden.

Krishna Mustafa, der Protagonist Ihres Romans, passt in keine Schublade: Er hat Rastalocken, kifft jedoch nicht und hört auch keinen Reggae. Ausserdem hat er eine merkwürdige Krankheit: Hymnosomnie. Das heisst, er schläft ein, wenn er eine Nationalhymne hört. Wie sind Sie auf diese Krankheit gekommen?
Ich wollte ein fantastisch-absurd anmutendes Element haben, das verdeutlicht, dass bestimmte Kategorien und Klischees für ihn nicht greifen. Wir verwenden ja nicht nur bei kulturellen und nationalen Unterscheidungen Klischees. Unser Kopf ist voller klischierter Kausalketten. Krishna Mustafa hört eben keinen Reggae, er hört Country. Das ganze Buch handelt davon, dass alle Grenzen in erster Linie fiktiv sind. Die Welt, in der wir uns bewegen, ist erst mal eine ausgedachte. Wir nehmen etwas als Realität hin und sagen, das sei jetzt gegeben und hier drin müssten wir uns bewegen. Da wir nun halt mal Nationalstaaten haben – als ob die nicht mal jemand erfunden hätte –, müssen wir schauen, was wir damit machen: öffnen, schliessen, Mauern hochziehen, verschieben. Anstatt dass wir einfach mal sagen: Das ist eine Fiktion, die wir mal in die Realität gezwungen haben, die können wir auch ändern.

Sie haben in Ihren Roman einen «Chor der Einäugigen» eingebaut, der regelmässig auftritt und mit einem Blinden absurde und lustige Diskussionen über alles Mögliche führt. Warum haben Sie diese Metaebene gewählt?
Erstens brauchte ich eine Instanz, die Fakten erzählt. Krishna Mustafa ist eine schlechte Instanz, um Fakten wiederzugeben. Der andere Grund ist: Dies ist mein erster Versuch, etwas in Romanlänge zu schreiben, das lustig ist. Irgendwann versteht man als Leser, wie der Humor funktioniert. Und dann ist es nicht mehr ganz so lustig. Und man hat beim Humor auch nicht die Möglichkeit, noch andere Tiefen oder Atmosphären auszuloten. Der Chor der Einäugigen gibt halt die Möglichkeit, nochmals einen ganz anderen Humor sowie einen Tempowechsel reinzubringen. Und es macht natürlich Spass zu schreiben, wenn man einfach losgelöst von allem agieren kann und es auch egal ist, ob das nun sehr platt ist, ob das zu sehr kalauert, ob das ein zu pubertärer oder zu fäkaler Humor ist. Egal, der Chor der Einäugigen, der darf und macht das jetzt einfach.

Einmal führt der Chor der Einäugigen mit dem Blinden eine heftige Diskussion über Comedians mit Migrationshintergrund, die in Deutschland gerade einen ziemlichen Boom erleben. Die Mitglieder des Chors sind sich nicht einig, ob diese Künstler die gängigen Vorurteile und Klischees, die gegenüber Migranten bestehen, abbauen oder zementieren. Was ist Ihre Meinung dazu?
Ich finde nicht, dass man argumentieren kann, diese Klischees würden sich auflösen, wenn man dem Publikum die Gelegenheit gibt, über sie zu lachen. Denn wenn du die Klischees nicht demontierst, ist alles, was du machst, das Gegenteil, nämlich die Klischees zu zementieren. Einerseits. Andererseits jedoch ist es eine völlig normale und folgerichtige Entwicklung, dass man als «der Migrant» immer erst einmal die Clownrolle spielen muss. Das ist der erste Schritt, bevor die anderen Rollen kommen. Es funktioniert nicht anders. Schauen wir uns die Schwarzen in den USA an: Hie und da sind sie überrepräsentiert, nämlich in den Gefängnissen. Und hie und da sind sie unterrepräsentiert, zum Beispiel in der Filmbranche. Immer noch. Sidney Poitier hat 1964 den Oscar für den besten Hauptdarsteller gewonnen, und nachher kam jahrzehntelang niemand mehr.

2002 gewann mit Denzel Washington dann der zweite afroamerikanische Schauspieler den Oscar als bester Hauptdarsteller.
Und was war dazwischen? Eddie Murphy. Eddie Murphy ist für mich der erste grosse schwarze erfolgreiche Schauspieler. Was hat er gemacht? Komödie. Natürlich kann man nicht ein Beispiel nehmen und sagen, das seien die Gesetzmässigkeiten. Aber ich glaube schon, dass es das ist, was zunächst passiert: Man spielt zuerst den Clown. So gesehen können wir diese ganzen Comedians als einen ersten, unausweichlichen Schritt zu irgendetwas anderem sehen. Allerdings bewegen wir uns dabei im Schneckentempo.

Ein Pramajunkie

Der Titel seines ersten Romans klang wie ein Gedicht: 1995 debütierte Selim Özdogan mit «Es ist so einsam im Sattel, seit das Pferd tot ist». Seither hat der 1971 in Köln geborene Autor Romane, Kurzgeschichten und Hörbücher veröffentlicht. Auch zu seiner im Interview erwähnten Yogaleidenschaft schrieb er übrigens ein Buch: «Kopfstand im Karma-Taxi. Bekenntnisse eines Pramajunkies».

Ende Juni liest Özdogan an den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt.

«Wieso Heimat, ich wohne zur Miete»: Auf Wurzelsuche in Istanbul

Krishna Mustafa wundert sich: Er ist in Istanbul auf der Suche nach einer Moschee, doch was findet er? Jede Menge Kirchen. Und mit Einbruch der Dunkelheit wird auch noch die Weihnachtsbeleuchtung eingeschaltet. Ein Verkäufer klärt ihn auf: «Die brennt jede Nacht, sagt er, das ganze Jahr über. Wir sind ja keine Christen.» Doch weil die ChristInnen besser einkaufen, wenn die Weihnachtssterne leuchten, ist sie das ganze Jahr über an.

Der Deutschtürke Krishna Mustafa wird sich bei seinem Aufenthalt in Istanbul noch ein paarmal wundern, dass in der Türkei vieles nicht so ist, wie er das in Deutschland erzählt bekommen hat. Unterhaltsam und witzig spricht Selim Özdogan in seinem Roman «Wieso Heimat, ich wohne zur Miete» Klischees an, um diese gleich wieder zu demontieren. Das Buch wird aus Sicht von Krishna Mustafa erzählt, einem liebenswerten und ungewollt lustigen jungen Mann, der das Produkt einer Liebe zwischen einer deutschen Hippiemutter und einem türkischen Deutschstudenten und Kleindealer ist. Bis zur Einschulung lebte er glücklich und Cola-trinkend in der Türkei, dann zog er mit seinen Eltern nach Deutschland, wo es sein Vater bald nicht mehr aushielt. Krishna wuchs alleine mit seiner Mutter auf und fand in der Waldorfschule neue Freunde, «die alle keine Cola trinken durften».

Nun ist der Erwachsene Krishna Mustafa auf der Suche nach seiner Identität in Istanbul, wohin ihn seine deutsche Freundin geschickt hat. Was er eigentlich sucht, weiss er auch nicht genau. So stolpert er mit offenen Augen und Ohren durch Istanbul, verpasst dauernd die Treffen mit seinem Vater, baut in seinem WG-Zimmer berühmte türkische Bauwerke mit Lego nach, bekommt von seinen MitbewohnerInnen Nachhilfe in Sachen Gezi-Proteste und wird in einem Onlinemagazin fälschlicherweise als angehender Dschihadkämpfer porträtiert. All das erzählt Selim Özdogan in plauderndem Ton mit viel Drive und einem Witz, der oft von unerwarteter Seite zuschlägt und die LeserInnen immer wieder laut lachen lässt. «Wieso Heimat, ich wohne zur Miete» ist eine höchst vergnügliche Lektüre und eine ernst zu nehmende Auseinandersetzung mit Identität, Heimat sowie nationalen und kulturellen Klischees.

Silvia Süess

Selim Özdogan: «Wieso Heimat, ich wohne zur Miete». Haymon Verlag. Innsbruck 2016. 245 Seiten. 28 Franken.