Überwachung: Alles FeindInnen der Schweiz?

Nr. 40 –

Der Nachrichtendienst hat die SP-PolitikerInnen Margret Kiener Nellen und Cédric Wermuth in seinen Datenbanken erfasst. Im Visier des Staatsschutzes dürften aber insbesondere MigrantInnen und ihre Organisationen stehen.

Besonders auf kurdische AktivistInnen hat es der Geheimdienst abgesehen: Protest gegen die Haftbedingungen in der Türkei, Bellinzona im April 2018. Foto: Pablo Gianinazzi, Keystone

Bei Margret Kiener Nellen sind es sagenhafte siebzig Einträge. Cédric Wermuth hat vom Nachrichtendienst des Bundes (NDB) einen fünfseitigen Auszug erhalten. Der neuste Skandal dreht sich um zwei SP-NationalrätInnen. Die Auszüge, die der WOZ vorliegen, zeigen, dass der NDB alle möglichen Aktivitäten der PolitikerInnen fichierte. Gespeichert sind in seinen Datenbanken etwa politische Vorstösse der beiden sowie Zeitungsartikel, in denen ihre Namen auftauchen.

Der NDB hat sich auch durch andere Behörden von Treffen im Bundeshaus berichten lassen: Bei Wermuth interessierte eine Zusammenkunft mit AramäerInnen, bei Kiener Nellen eine mit kurdischen AktivistInnen – aber auch ihre Teilnahme an einer Konferenz der OSZE. Der NDB rechtfertigt sein Vorgehen: Man habe Kiener Nellen und Wermuth zu keinem Zeitpunkt ausspioniert. «Der NDB hat keine personenbezogenen Informationen erschlossen oder bearbeitet.» Die Mehrheit der Daten stamme zudem aus öffentlichen Quellen, Vorstösse lege der NDB ab, wenn er in deren Bearbeitung involviert sei. Wie auch in anderen Fällen stellt sich der NDB damit auf den Standpunkt, es sei unproblematisch, wenn Personen quasi als Beifang in seine Datenbanken geraten.

Zurück zur Gesinnungspolizei?

Die WOZ berichtete bereits im Frühling über die Fichierung von PolitikerInnen, Parteien sowie Organisationen der ausserparlamentarischen Linken. Betroffen waren damals etwa SP-Ständerätin Anita Fetz, deren Rede bei einem kurdischen Verein registriert wurde, die Berner Juso oder die Basler Linkspartei BastA! (siehe WOZ Nr. 21/2019 ). Der NDB mag diese Betroffenen zwar nicht konkret überwachen – besser macht es das nicht. Eine BastA!-Politikerin gibt auf Facebook einer Anti-Pegida-Demonstration ein Like? Ein Screenshot davon landet in einer NDB-Datenbank. Die Alternative Linke der Stadt Bern unterstützt eine Solidaritätskundgebung für Flüchtlinge? Registriert der NDB ebenfalls.

Wegen dieser und anderer Fälle hat der Verein Grundrechte.ch eine Aufsichtseingabe gemacht, die bei der Geschäftsprüfungsdelegation des Parlaments (GPDel) hängig ist. Viktor Györffy, Präsident von Grundrechte.ch, sagt: «Wir müssen aufpassen, dass sich der Schweizer Nachrichtendienst nicht wieder zu einer Gesinnungspolizei entwickelt. Diese Tendenz sehe ich derzeit.»

Skandal auf Skandal

Gesinnungspolizei. Das Wort ruft Erinnerungen wach an den grossen Fichenskandal von 1989, als nach Bekanntwerden der flächendeckenden Überwachung von unliebsamen BürgerInnen klar wurde, wen der Staatsschutz als Feind betrachtet hatte: einerseits die Linken, in allererster Linie aber politisch aktive MigrantInnen und Geflüchtete. Dieser Fokus war dem schweizerischen Staatsschutz bereits in die Geburtsurkunde geschrieben: Die Bundesanwaltschaft, der ursprüngliche Kern der Staatsschutzorgane, wurde 1891 auf Druck des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck geschaffen. Ihre vordringliche Aufgabe waren die Überwachung und die Bespitzelung der sozialdemokratischen und anarchistischen Geflüchteten aus Deutschland und Russland – und ihrer schweizerischen GenossInnen.

Auch in den dreissiger und vierziger Jahren, als man sich gegen aussen um eine politische Symmetrie bemühte, stand der Feind links. Die Botschaft über den nie verabschiedeten «Bundesbeschluss zum Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit» argumentierte 1936 mit den «unter ausländischem Einfluss stehenden kommunistischen Umtrieben» im Land. In den fünfziger Jahren erneuerte sich mit dem Kalten Krieg auch das antikommunistische Feindbild, und die Überwachung von AusländerInnen nahm eine neue Dimension an. Die angeworbenen italienischen «Gastarbeiter» bildeten bis Ende der achtziger Jahre die grösste Gruppe der fichierten AusländerInnen. 1989 gab es zu 900 000 Personen und Organisationen eine Fiche in der Hauptregistratur der Bundespolizei. Über eine halbe Million davon betrafen AusländerInnen, 300 000 davon lebten in der Schweiz. Weitere rund 250 000 hatten das Land entweder noch nie betreten oder nach kurzem Aufenthalt wieder verlassen.

Ist Györffys Sorge berechtigt? Fakt ist, dass sich der Staatsschutz auch seit dem grossen Fichenskandal immer wieder blamiert. Zuletzt 2010. Damals war die Zahl der registrierten Personen bereits wieder auf 200 000 angewachsen. Am Anfang dieses zweiten, erheblich kleineren Fichenskandals stand die Enthüllung, dass der Basler Staatsschutz linke, kurdischstämmige GrossrätInnen und die Flüchtlingshelferin Anni Lanz registriert hatte. Und auch die WOZ und einer ihrer Redaktoren erfuhren, dass sie registriert waren.

Bedenklich ist, dass dem NDB auch dreissig Jahre nach seinem Totalversagen offensichtlich jegliche Sensibilität für Grenzüberschreitungen abgeht. Das Nachrichtendienstgesetz verbietet ihm, Informationen über die «politische Betätigung» seiner BürgerInnen und ihre «Ausübung der Meinungs-, Versammlungs- oder Vereinigungsfreiheit» zu beschaffen und zu bearbeiten. Ausser es gibt konkrete Anhaltspunkte, «dass die Person oder Organisation ihre Rechte ausübt, etwa um terroristische, gewalttätige oder extremistische Tätigkeiten vorzubereiten oder durchzuführen». Györffy sagt: «Das Argument des NDB, dass man nicht personenspezifisch fichiere und die Daten nicht bearbeite, ist ungültig. Schon das Ablegen von Informationen ist eine Bearbeitung. Der NDB müsste alle Personen und Organisationen, bei denen keine Hinweise auf eine für den NDB relevante Betätigung bestehen, vor dem Abspeichern von Daten schwärzen. Auch wenn diese aus öffentlichen Quellen stammen.»

SchülerInnen in der «Tageslage»

Kommt hinzu, dass völlig unklar bleibt, wen der NDB eigentlich im Fokus hat. Sind es «bloss» als gewaltextremistisch eingestufte Gruppierungen? Wen genau überwacht der Geheimdienst, wenn er eine Notiz zu einer Demonstration der Berner Juso gegen das neue Polizeigesetz in seiner Hauptdatenbank ablegt? Oder unter der Rubrik «Tageslage» eine Antiatomdemo von SchülerInnen registriert? Catherine Weber, Vorstandsmitglied von Grundrechte.ch, sagt: «Mir kommt es vor, als beobachte man wieder einfach alle ein bisschen. Ganz nach dem Motto: Wer nicht gefährlich ist, kann es ja noch werden.» Das sei eine äusserst bedenkliche Entwicklung. «Man stelle sich etwa vor, was das für Bewegungen wie die Klimajugend heisst.» Györffy fragt: «Sieht der NDB alle Organisationen, die eine Veränderung wollen, als Staatsbedrohung?» Der NDB dürfe nicht wieder damit beginnen, alle politischen Aktivitäten auf der Strasse zu registrieren. «Dass so auch Parlamentarier registriert werden, zeigt, wie weite Kreise das zieht.» Die politische Grosswetterlage könne sich wieder ändern. «Und dann geraten vielleicht wieder im grösseren Stil Personen ins Visier, denen fälschlicherweise Nähe zu Gewaltextremismus oder Terrorismus unterstellt wird.»

Beständig ist auch das zweite Feinbild: Seit den siebziger Jahren waren es nicht mehr vornehmlich AntikommunistInnen aus Osteuropa, die in der Schweiz ein Asylgesuch stellten. Geflüchtete aus Chile, aus Sri Lanka, Palästina oder der Türkei, unter ihnen viele KurdInnen, verbreiterten das Tableau der Überwachten. Das Bundesverwaltungsgericht hat in einem Urteil von 2018 im Fall eines kurdischen Geflüchteten festgehalten, dass der NDB die geeignete Stelle für die Beurteilung von Gefahren ist, die Asylsuchende für die innere Sicherheit der Schweiz darstellen könnten. 2018 überprüfte der Nachrichtendienst rund 5500 Asyl- und fast 50 000 Einbürgerungsgesuche.

Die kurdische PKK wurde zwar in der Schweiz, anders als in der EU, nie verboten. Ihre Mitglieder gelten aber als «ExtremistInnen». Geflüchtete, die der Organisation angehören, erhalten wegen «Asylunwürdigkeit» oft nur eine vorläufige Aufnahme. Dass gerade der Kontakt zu kurdischen AktivistInnen verdächtig macht, musste vor Margret Kiener Nellen schon die ehemalige Aussenministerin Micheline Calmy-Rey erfahren. Der türkische Geheimdienst MIT meldete 2003 dem damaligen Dienst für Analyse und Prävention (DAP), dass die SP-Bundesrätin am Rand einer Tagung in Lausanne mit einem kurdischen Aktivisten über den Gesundheitszustand des inhaftierten Abdullah Öcalan geredet habe. Der DAP informierte die EJPD-Vorsteherin Ruth Metzler, die setzte zunächst den damaligen Bundespräsidenten Pascal Couchepin in Kenntnis, ehe schliesslich auch Calmy-Rey von den Vorwürfen erfuhr.

Das aktuelle Ausmass der Sammelwut des NDB ist noch nicht abzusehen. Möglichst viele müssten Auszüge verlangen, sagt Györffy, «um ein besseres Gesamtbild zu bekommen». Die GPDel will noch vor dem Legislaturende eine Zwischenbilanz ziehen.