Überwachung: Geheimdienst an die Kandare!
Der Staatsrechtler Rainer J. Schweizer kritisierte bereits 2015 das neu konzipierte Nachrichtendienstgesetz (NDG) als Gefahr für die «freiheitliche Demokratie»: Es sei inakzeptabel, denn eine solche «Schnüffelei» würde «die Gesellschaft vergiften» und einen «undemokratischen Anpassungsdruck auf kritische Landesbewohner oder abweichend denkende und glaubende Menschen» ausüben.
Genau das ist eingetroffen – trotz klarer gesetzlicher Schranken gegen ebendiese Schnüffelei. Obwohl es das NDG klar verbietet, beschafft sich der Nachrichtendienst illegal Daten über erwünschte legale politische Aktivitäten – in einem atemberaubenden Ausmass. Als hätte es nie einen Fichenskandal gegeben.
Ohne Auftrag des Gesetzgebers erweist sich der Geheimdienst als politische Polizei. Der Dienst erfasst in seinen Datenbanken demokratisch gesinnte BürgerInnen und sogar gewählte PolitikerInnen. Wer eine bewilligte Demonstration organisiert, an Wahlkampfveranstaltungen teilnimmt oder als ParlamentarierIn Vorstösse einreicht: Niemand ist sicher vor dieser absurden Sammelwut. Was treibt diese BürokratInnen an? Die Juso, die Klimajugend, SP-ParlamentarierInnen wie Anita Fetz, Cédric Wermuth oder Margret Kiener Nellen haben ganz offensichtlich nichts mit politischem Extremismus oder gar Terrorismus am Hut. Weshalb also werden sie erfasst?
Bis zum Sommer 2019 hatten sich in den NDB-Datenbanken 7,7 Millionen Dokumente angesammelt – vorwiegend Presseberichte und Presseschauen. Zum Vergleich: Die Schweizer Mediendatenbank archiviert Jahr für Jahr rund zwei Millionen Artikel aus 300 Publikationen. Der NDB als Mediendatenbank – darüber könnte man ja lachen. Aber dessen Artikelsammlung ist keineswegs harmlos. Mit der 2015 eingeführten Freitextsuche kann der NDB das politische Verhalten analysieren – und gefährliche Schlüsse ziehen. Selbst Personen, die nicht aktiv überwacht werden, könnten in falschen Verdacht geraten.
Das alles weiss die Öffentlichkeit seit letzter Woche, weil der private Verein grundrechte.ch im Mai 2019 die Aufsichtsbehörde aufgefordert hatte, das Gebaren des NDB zu überprüfen. Der Bericht der Geschäftsprüfungskommission der eidgenössischen Räte (GPDel) offenbart, dass nicht politisch aktive BürgerInnen den Rechtsstaat gefährden – sondern der NDB selbst. Er ignoriert systematisch die Schranken, die ihm das Gesetz auferlegt. Die GPDel stellt in ihrem Bericht fest, dass die Mehrheit der Zeitungsartikel und Meldungen von Nachrichtenagenturen sowie Texte von Internetseiten vom Dienst weder hätten beschafft noch bearbeitet werden dürfen. Auch «praktisch jede der analysierten täglichen Ereignisübersichten des Bundessicherheitsdienstes (BSD) enthält Meldungen, welche nicht den Vorgaben des NDG entsprechen». Auch kam der Nachrichtendienst Aufträgen und Empfehlungen der GPDel nicht nach, die sie bereits 2015 abgegeben hatte. So hat der Dienst – wie etwa im Fall von vier kurdischen Politikern aus Basel – die Anweisung ignoriert, zu Unrecht erfasste Personendaten zu löschen. Ebenso ignorierte er, dass personenbezogene Informationen über politische Aktivitäten nicht durch eine Freitextsuche zugänglich sein dürfen. Denn alles, was so auffindbar ist, gilt als «personenbezogen erschlossen». Diese Sicht stützt übrigens auch ein Gutachten des Bundesamts für Justiz. Und schliesslich kommt der NDB auch seiner Auskunftspflicht nur ungenügend nach.
Der Befund der Aufsichtsbehörde ist verheerend. Der Geheimdienst hat nichts aus dem Fichenskandal gelernt. Immerhin: Die demokratische Kontrolle funktioniert halbwegs. Dennoch ist sie ungenügend. Die Politik muss den NDB, der offensichtlich über zu viel Ressourcen verfügt, redimensionieren und sein Führungspersonal an die Kandare nehmen. Der Geheimdienst soll demokratisch gesinnte und politisch aktive BürgerInnen in Zukunft gefälligst in Ruhe lassen. Das müssen Parlament und Bundesrat dreissig Jahre nach dem Fichenskandal endlich garantieren.