Von oben herab: Krawall machen
Stefan Gärtner schaut «Tagesschau»
In Günter Wallraffs (bzw. Hermann L. Gremlizas) «Bild»-Undercoverbericht «Der Aufmacher» muss sich der Redaktor Hans Esser (Wallraff) immer wieder vom Redaktionsleiter kritisieren lassen, weil der die Geschichte nicht sieht: «Da seh’ ich die Geschichte nicht.» Also muss Esser dafür sorgen, dass eine Geschichte zu sehen ist, auch wenn es keine gibt.
Dass Linksextreme in der Schweiz Pro-Kurdistan-Demos missbrauchen, um den kommenden Umsturz vorzubereiten, wäre eine tolle Story, etwa für die SRF-«Tagesschau», wenn es denn eine Story wäre; und dann ist es eine, weil die Kolleginnen und Kollegen den Blick (nicht den «Blick»!) haben. In Bern soll ein Passant, der sich kritisch über ein Spruchband geäussert hat, von «offensichtlich Linksextremen» attackiert worden sein, vor der türkischen Botschaft sollen Holzlatten aus einem Zaun gerissen und Richtung Polizei geworfen worden sein. «An den Holzlatten befinden sich, wie Bilder von Tele Bärn belegen, auch rostige Nägel. Nur durch Glück wird niemand verletzt.» Und nur durch Glück kommt es also nicht zu dem «Umsturz», von dem der «Aussteiger Adrian Oertli» überzeugt ist, dass ihn die Linksextremen wollen, «weshalb die Anwendung von Gewalt integraler Bestand ihrer Strategie sei». Die bestehende Gesellschaftsordnung muss sich also vorsehen, dass sie nicht beizeiten Holzlatten und rostigen Nägeln zum Opfer fällt; da wird sich die Staatsmacht, zu deren Strategie Gewalt bekanntlich kein bisschen gehört, etwas einfallen lassen müssen.
Der Geheimdienst, von der «Tagesschau» darum gebeten, ist jedenfalls alarmiert und stellt eine «Intensivierung der Aktivitäten» fest: «Diese Ereignisse können – insbesondere, wenn sie von der gewalttätigen linksextremen Szene initiiert werden – auch gewalttätig verlaufen.» Müssen nicht, doch wenn nichts muss, dann kann bekanntlich alles, und also müssen Politikerinnen und Politiker «wohl Belästigungen in der Öffentlichkeit oder im Internet fürchten, so ein Beobachter», und spätestens jetzt rächt es sich, dass ich den «Aufmacher» immer nur geborgt habe, weil ich das Zitat nicht nachschlagen kann: Die besten Zeugen und Zeuginnen, lernt Esser, sind die anonymen, die in irgendeinem Hochhaus wohnen, denn dann hat man Beobachtungen, die sich im Zweifel nicht prüfen lassen; falls man die Vermutungen nicht vage genug formuliert, dass sie der Prüfung erst gar nicht wert sind.
So wie man die Binsenweisheit auch nicht prüfen muss, dass es bei Demos manchmal hoch hergeht. Und will mans aber noch es bitzeli höher hängen, dann holt man sich einen Experten, etwa einen Extremismusforscher von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, der sich alle Mühe gibt, aus dem wenigen immerhin etwas zu machen (und hier benötigen wir den genauen Wortlaut aus dem Beitrag selbst, nicht die Zusammenfassung auf der SRF-Seite): «Sie instrumentalisieren diese Vorkommnisse, um dann hier in der Schweiz Krawall zu machen, einfach hier sichtbar zu sein, Aktionen zu starten, Gewalt gegen Sachen auszuüben, das ist das Problematische dann. Es geht nicht nur um eine friedliche Demonstration gegen diesen Angriffskrieg, sondern es geht darum, auch die eigenen Positionen durchzusetzen, sichtbar zu sein, auch Gewalt auszuüben, und das ist definitiv dann ein problematischer Schritt.»
Definitiv und mindestens theoretisch, denn ausser dem angegriffenen Passanten, dem hoffentlich nichts passiert ist, und einem kaputten Holzzaun ist ja nichts von Belang geschehen. Woher ich das weiss? Natürlich aus der «Tagesschau»: «Gesetzesverstösse sind an Kurdendemonstrationen selten. Gewaltbereite Linksextreme schaden ihrer Sache wohl eher.»
Und nützen dabei der Sache, auf deren Seite die «Tagesschau» so unverbrüchlich steht. Also alles in bester Ordnung. Und wer hier Vorkommnisse instrumentalisiert, das fragen wir nicht.
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.