Katalonien vor den Wahlen: Der «Tsunami» hinter den Barrikaden

Nr. 44 –

Der Kampf um die katalanische Unabhängigkeit tobt nicht nur in den Strassen Barcelonas, sondern auch im Web, wo zentralstaatliche ZensorInnen etwa über verschlüsselte Chatdienste ausgetrickst werden. Und in Madrid steigt vor den Wahlen die Nervosität.

Es riecht nach verbranntem Plastik auf der Plaça de Catalunya vergangene Samstagnacht gegen 22 Uhr im Herzen von Barcelona. Am Passeig de Gràcia zünden junge vermummte SeparatistInnen eine Barrikade aus Mülltonnen, Karton und Paletten an. Die Woche war vergleichsweise ruhig gewesen. Doch am Samstag demonstrierten wieder über 350 000 Menschen gegen die exorbitanten Haftstrafen, die über die führenden Köpfe der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung verhängt worden waren.

Die Strassenschlacht verläuft entlang der Via Laietana, wo der Sitz der spanischen Polizeidirektion liegt. «Aus dem Gebäude machen wir eine Bibliothek», skandieren die DemonstrantInnen und werfen Plastikbälle auf die PolizistInnen – «Wir geben euch die Gummigeschosse zurück!»

Die «Komitees zur Verteidigung der Republik» (CDR) haben zum Protest mobilisiert. Die CDR rufen seit Wochen zu Selbstorganisation und zivilem Ungehorsam auf – zu Blockaden von Zuggleisen und Autobahnen. Mitte Oktober besetzten Zehntausende den Flughafen von Barcelona. Seitdem reissen die Proteste nicht mehr ab.

Auf der Via Laietana prügelt die Polizei mit Schlagstöcken auf DemonstrantInnen ein. Die Bilanz der Samstagnacht: Dutzende Festnahmen, über dreissig Verletzte, darunter auch zwei JournalistInnen. Ein Polizist verletzte sich schwer, als er aus dem rasenden Einsatzwagen stürzte und von einem nachfolgenden teilweise überrollt wurde. Innerhalb der letzten zwei Wochen wurden in Katalonien über 600 Menschen verletzt; vier von ihnen wurden von Gummigeschossen im Auge getroffen und tragen schwere Augenschäden davon. Über 200 Personen wurden festgenommen.

«Que viva España!»

Der Sonntagmorgen bringt ein gänzlich anderes Bild. Für einmal dominieren in der Innenstadt nicht die katalanischen Flaggen, die Esteladas, mit dem weissen Stern auf blauem Hintergrund, sondern die rot-goldgelb-rote Flagge Spaniens. Die Societat Civil Catalana (SCC) hat zur Grossdemo geladen – gegen die Unabhängigkeitsbewegung und für die Einheit des spanischen Staates.

Dem Aufruf folgten 80 000 SpanierInnen landesweit, viele sind extra in den zahlreichen Bussen angereist. Die Stimmung ist festlich, Manolo Escobars Hymne «Que viva España!» schallt aus Boxen – hoch lebe Spanien! Mitunter sind Flaggen der paramilitärischen Guardia Civil, der Polizeigewerkschaft SUP, aber auch der Fremdenlegion zu erkennen. «Puigdemont ins Gefängnis!», wird unter Beifall skandiert. Der Exregionalpremier Carles Puigdemont floh vor zwei Jahren vor der drohenden Festnahme nach Belgien.

Der rechtskonservative Partido Popular, die neue Rechtspartei Ciudadanos sowie die rechtsradikale Vox und die katalanischen SozialistInnen PSC – sie alle sind an der Demonstration präsent, bemüht darum, Einigkeit gegenüber den Abtrünnigen zu demonstrieren – und politisches Kapital aus dem Ringen um Katalonien zu schlagen.

Die Parlamentswahlen stehen bevor: Weil es dem sozialdemokratischen PSOE unter Ministerpräsident Pedro Sánchez im April nicht gelungen war, Regierungsmehrheiten zu finden, sind nun für den 10. November Neuwahlen angesetzt. Auch dabei spielt die Unabhängigkeitsfrage eine Rolle: So hat Sánchez nach den Wahlen im Frühling eine Koalition mit der Linkspartei Unidas Podemos (UP) ausgeschlossen – wegen «unüberbrückbarer Differenzen» im Katalonienkonflikt.

Sánchez nimmt nicht einmal das Telefon ab, wenn der Vorsitzende der katalanischen Regionalregierung, Quim Torra, ihn anruft, während für Podemos nicht nur Verhandlungen infrage kommen, sondern allenfalls sogar ein Unabhängigkeitsreferendum. Deshalb steckt Sánchez nun in einer wahltaktischen Zwickmühle und streckt die Hand zum PP und zu den Ciudadanos aus – als Stützen für eine mögliche Minderheitsregierung des PSOE.

«Scheissspanien!»

Barcelonas Szeneviertel Gràcia ist das Terrain der «indepes», der UnabhängigkeitsbefürworterInnen. Die katalanische Hymne, «Els Segadors», schallt von einem Balkon, teils ausgebleichte Esteladas zieren Häuserfronten. Auf Transparenten steht «Freiheit für politische Gefangene», an die Wände ist «Scheissspanien» gesprüht.

In der AnarchistInnenbodega La Riera schaut man mit einem Auge stets aufs Handy, auf den verschlüsselten Telegram-Chat. Der Kanal «Anonymous Catalunya» tickert im Minutentakt: wo protestiert wird; wohin sich die polizeilichen Einsatzkräfte bewegen; wo sich Neonazigruppen mit ausgestrecktem Arm und Fahnen des ehemaligen Diktators Francisco Franco befinden.

Den anderen wichtigen Kanal, der als Plattform für die spontanen Proteste diente, die Website von «Tsunami Democràtic», liess das spanische Nationalgericht kurzerhand blockieren. «Aber die App und der Telegram-Chat von ‹Tsunami Democràtic› funktionieren immer noch», sagt Enric, der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte. Der vierzigjährige Katalane ist Mitglied in einem CDR und lobt die separatistischen InformatikerInnen, die wieder einmal, wie während des Referendums Anfang Oktober 2017, die spanische Cyberpolizei überlisteten. Um auf die anonyme und sichere App des «Tsunami» zugreifen zu können, braucht man einen QR-Code von einer Person, die bereits im Chat ist.

Enric hofft auf eine Vermittlung von aussen, sieht aber nur zwei Möglichkeiten, die dahin führen könnten: «Entweder kommt es zu den ersten Todesfällen wegen der Polizeigewalt. Oder wir schwächen die spanische Wirtschaft derart stark, dass Brüssel reagieren muss.»

Proteste wie in Hongkong

Wohin führt Kataloniens Kampf um die Unabhängigkeit? «Wir machen weiter», antwortet Elisenda Paluzie, die Präsidentin der Katalanischen Nationalversammlung (ANC), kämpferisch. «Wie die Protestierenden in Hongkong geben wir nicht auf.» Jordi Sànchez, Paluzies Vorgänger an der ANC-Spitze, wurde zu neun Jahren Haft verurteilt. Angst vor der spanischen Justiz habe sie keine, sagt die Ökonomin. «Wir sind uns der Gefahr seitens der Justiz jedoch bewusst.» Paluzie glaubt aber nicht, dass die Bewegung so schnell wieder abflauen wird.

«Die Urteile gegen die Separatisten, die Politiker und Aktivisten haben den Unmut in der Bewegung verstärkt und die Wut stark angefacht», sagt auch Martí Estruch. Er sitzt im katalanischen Auslandsbüro Diplocat, das der Internationalisierung der Separatismusbewegung dient. «Mit der Flughafenbesetzung im Stil der Hongkonger Proteste und den brennenden Barrikaden wurde die Welt wieder wachgerüttelt.» Vielerorts sei das katalanische Problem schon halb vergessen gegangen.

Der Konflikt könne nur von aussen beigelegt werden, auf internationaler Ebene und mithilfe der EU. «Um das zu erreichen, muss es beginnen wehzutun – und das geht über die Wirtschaft», sagt Estruch. Ziel sei nicht ein mit Madrid vereinbartes Referendum, sondern ein von Brüssel angeordnetes. Es brauche noch viele Wochen mit Massenmobilisierungen, Protestaktionen und Phänomenen wie «Tsunami Democràtic». Mit über 380 000 FollowerInnen auf Telegram und 200 000 auf Twitter signalisiert der Kanal: Gegen die Repression haben wir Einfallsreichtum und Technologie.