«Da dachte ich: Ja super …» Dienstag, 25. November 2014, kurz nach 14 Uhr. Ein Mann erscheint in Begleitung von zwei Bodyguards. Dann steigt er auf ein Palett. Und nichts ist mehr wie vorher.

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  • «Die Nachtschicht von Sonntag auf Montag war ideal für mich»: João Marco Varella Ledermann in der Zürcher Kinobar Riffraff.
  • Höchste Konzentration, da wie dort: Jasmina Stankovic wechselte von NZZ Print zur Tamedia-Druckerei.
  • «Es brauchte zwei Jahre, bis das neue System funktionierte»: Franco Brajkovic in der Mittelland-Zeitungsdruckerei.
  • «Für mich waren die 25 Jahre NZZ die schönste berufliche Zeit»: Rita Pally, zuhause in Unterengstringen.
  • «43 Jahre habe ich geschuftet. Jetzt geniesse ich nur noch das Leben»: Giuseppe ­Bufalino zu Hause in Thalwil.
  • «Ich bin froh, keine Nachtschicht mehr machen zu müssen»: David Pierlot, hier in der Mittelland-Zeitungs­druckerei.

Laura Müller* (26), Drucktechnologin, kann sich gut erinnern: «Eines Morgens hing ein Zettel am Haupteingang: Alle sollen sich in der grossen Halle versammeln.»

«Ja, es war am Dienstag, dem 25. November 2014, um 14 Uhr», bestätigt Peter Schönmann (65), pensionierter Leiter Technischer Support, er habe das in seiner Agenda nochmals überprüft. «Auf dem Weg zur Halle diskutierten wir, was wohl Erfreuliches mitgeteilt würde. Doch als ich die Bodyguards sah, wusste ich: Jetzt ists nicht mehr lustig.»

«Herr Dengler stellte sich mit einem Mikro auf ein Palett und sagte, dass die Druckerei in zehn Jahren sowieso pleitegehen würde», erzählt Franco Brajkovic (52), damals Schichtleiter in der Ausrüstung. «Eine Stunde später gingen wir schon wieder an die Arbeit. Wir hatten ja so viele Aufträge.»

«Dengler redete zuerst um den heissen Brei herum – und sagte dann plötzlich, ohne das Gesicht zu verziehen: ‹Wir machen zu›», erinnert sich Jasmin Kündig (26), damals Köchin. «Bis dahin war die Stimmung in der NZZ absolute Weltklasse. Und wir hatten die weltbeste Kantine!»

«Zuerst dachte ich tatsächlich, es sei ein Witz», gesteht David Pierlot (37), auch er Schichtleiter Ausrüstung. Da er an diesem Tag zu Hause bei seinem kranken Sohn gewesen sei, habe er es von einem Kollegen am Telefon erfahren.

Nachdem Veit Dengler fertig gesprochen habe, seien die Leute stumm aus der Halle gegangen, erinnert sich João Marco Varella Ledermann (29), Logistiker: «Einige hatten Tränen in den Augen.»

Herbst 2019. Mit wem man von der damaligen Belegschaft des NZZ-Druckereizentrums auch spricht: Alle erzählen sie, wie familiär das Betriebsklima in Schlieren gewesen sei. Wie sehr sie die Ankündigung Denglers – damals CEO der NZZ-Gruppe –, den Betrieb per Ende Juni 2015 zu schliessen, getroffen habe. Und wie unerwartet die Botschaft für sie gekommen sei.

Begegnung im Lift

Ab Februar 2015, als die Aufträge sukzessiv heruntergefahren wurden, sei es «immer komischer» geworden, sagt Jasmin Kündig. «Viele wussten nicht wirklich, was passiert. In der Kantine mussten wir immer weniger Menüs rausgeben. Zuallererst schmissen sie die Drucker raus – Leute, die bis zu 300 Nachtschichtüberstunden hatten.»

«In den letzten Wochen mussten wir einfach noch die Arbeitszeit absitzen», sagt Laura Müller. «Die einen rauchten, hockten rum, andere begannen, abzubauen und aufzuräumen. Und dann, zwei Jahre später, las ich, dass auch Dengler weg ist. Da dachte ich: Ja, super …»

Im Lift sei sie Herrn Dengler noch einmal begegnet, erzählt Kündig: «Ich mit meiner Küchenschürze, Dengler mit seinem Aktenkoffer. Da fragte er mich: ‹Arbeiten Sie hier?› Ich antwortete: ‹Nein, ich bin nur zum Spass hier.›» Die Schliessung habe ihr damals den Rest gegeben. Zwei Monate vor dem Aus habe sie begonnen, zusätzlich zum 100-Prozent-Job in der Kantine nachts in einer Bäckerei zu arbeiten. «Und dann», sagt Kündig, «dann kam der Tag, als jemand aus der Werkstatt ein Schild an den Haupteingang montierte: ‹Game over›.»

«Hier lebe ich wie im Paradies», sagt Giuseppe Bufalino. Der 64-Jährige sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer seines Hauses in Thalwil. Der Himmel ist blau an diesem milden Herbstnachmittag, fast wie gedruckt, und durchs offene Fenster weht Seeluft. «Für mich war die Frühpensionierung im Sommer 2015 ein Segen», sagt der ehemalige Hilfsdrucker. «43 Jahre habe ich geschuftet. Jetzt geniesse ich nur noch das Leben.»

Bufalino kam 1970 als Siebzehnjähriger in die Schweiz. Die ersten vier Jahre arbeitete er im Strassenbau. «Nicht als Saisonnier, sondern das ganze Jahr», wie er betont. «Ich hatte einen Spezialvertrag.» 1976 wechselte er als Hilfsdrucker in die Druckerei Jean Frey – und 1988 zur NZZ. Als jungem Familienvater sei ihm der Dreischichtbetrieb gelegen gekommen: «Oft kam ich von der Nachtschicht schon um zwei Uhr morgens nach Hause. So konnte ich am nächsten Morgen die Kinder hüten, während meine Frau bis Mittag arbeiten ging.» Überhaupt habe es ihm in Schlieren gefallen: «Sehr familiär war das alles. Und Drucken war schon immer ein Traum von mir.» In den letzten zwei Jahren sei die Stimmung nicht mehr so gut gewesen: «Es kamen viele junge Leute, die ein anderes Arbeitsverständnis hatten. Einmal hat jemand sein Handy auf der Maschine liegen lassen. Dann hat es vibriert, ist runtergefallen – und alles war blockiert.»

«Tack-tack-tack – und sofort stoppen!»

Nein, er habe diesen Entscheid, den Laden dicht zu machen, nie wirklich verstanden, erklärt Franco Brajkovic: «Arbeitsklima, Infrastruktur, Auftragslage: Alles war gut.»

Brajkovic, der in Schlieren fünfzehn Jahre Maschinen zur Adressierung und Verpackung bediente und überwachte, kam 1989 mit 23 Jahren aus Kroatien in die Schweiz. Aufgewachsen war er im slowenisch-kroatischen Grenzgebiet. Es war das Jahr, als sich die Wirtschaftskrise im heutigen Kroatien verschärfte, die 1991 zum Bürgerkrieg führte. «Ich habe je zwanzig Jahre Sozialismus und Kapitalismus erlebt», sagt er – und fügt hinzu, dass er eine Mischung aus beidem bevorzugen würde. Brajkovic, der in Kroatien eine Ausbildung in der Hotellerie absolviert hatte, arbeitete in der Schweiz einige Jahre in der Gastronomie. Schon dort schätzte er die Internationalität des Personals, wie er sie später auch in der Druckindustrie antraf. Und auch an der Arbeit in Schlieren fand er schnell Gefallen: «Meine Arbeit hat viel mit Rhythmus und Hellhörigkeit zu tun. Du musst spüren, wie die Kette in der Rotation läuft, den Fehler im Voraus heraushören: Tack-tack-tack – und sofort stoppen! Im Print darfst du dir keine Fehler leisten.» Auf die Dauer sei das aber doch ziemlich anstrengend. «Bis 65 kannst du das kaum durchhalten.»

Am meisten Sorgen habe er sich nach Denglers Auftritt um ältere Kollegen gemacht, sagt João Marco Varella Ledermann, «all die Familienväter, die nie mehr einen so guten Stundenlohn haben werden». Der Sohn einer Brasilianerin und eines Schweizers, der Mitte der neunziger Jahre im Alter von fünf Jahren aus São Paulo in die Schweiz gekommen war, begann 2012 bei NZZ Print. Davor hatte der gelernte Logistiker in der Gastronomie gearbeitet, unter anderem im Zürcher Club Mascotte.

Meditieren im Akkord

Nachtarbeit war Varella Ledermann daher gewohnt. «Die Nachtschicht von Sonntag auf Montag, ab Mitternacht oder zwei Uhr früh, war ideal für mich», sagt er. Zwei Jahre arbeitete er temporär in der Produktionslogistik und füllte Postwagen. «Um die Akkordarbeit zu ertragen, habe ich mit Meditieren angefangen.» Als es wegen der vielen Aufträge in einer anderen Abteilung mehr Leute brauchte, wechselte er in die Spedition, wo er bis zum Schluss auf einer 100-Prozent-Stelle arbeitete.

«Was hätten wir anderes erwarten sollen als positive Neuigkeiten?», fragt Peter Schönmann im Gasthof zur frohen Aussicht in Zumikon. «Es standen zu dieser Zeit ja einige Projekte im Raum. Und für eine zusätzliche Versandanlage mit Umbauten waren 13,5 Millionen Franken bewilligt worden.»

Schönmann erlebte die technologische Entwicklung in den letzten vierzig Jahren hautnah mit: 1976, als er als junger Elektriker in der alten Druckerei an der Falkenstrasse anfing, wurde die damalige MAN-Druckmaschine noch mit Bleiplatten gefüllt. «Für jede Seite wurde eine zwölf Kilo schwere Bleiplatte benutzt, die der Drucker hineinheben und einspannen musste. Und die Textseite musste der Schriftsetzer noch in einem Setzschiff mit Klischees und Bleibuchstaben, später mit Bleitextzeilen ab Setzmaschine erstellen. Auf diesem Schiff ging der Satz dann runter zur Stereotypie, wo die Gussmatrize hergestellt wurde. Auch die Rollen wurden noch manuell gewechselt: Der Rolleur musste zur richtigen Zeit im Rollenkeller die Maschine anhalten, das Papier der neuen Rolle von Hand ankleben und dann den Startbefehl zum Wiederanfahren geben.»

Als besonders spektakulär bleibt Schönmann der Umzug 1989 nach Schlieren in Erinnerung: «Von der Falkenstrasse übermittelte man die Druckdaten über ein eigenes Glasfasernetz nach Schlieren in die Plattenherstellung – als Back-up musste eine zweite Leitung erstellt werden. Später wurde auf dem Dach der Druckerei eine eigene Satellitenantenne installiert.»

«Der Schliessungsentscheid kam auch für mich sehr unerwartet», sagt Rita Pally (66), pensionierte Sachbearbeiterin. «Dabei sagte Herr Schweizer, der Chef unseres Druckereizentrums, noch ein Jahr vorher: ‹Der Druckstandort Schlieren liegt ideal – in der Mitte zwischen Luzern, Aarau, Zürich und St. Gallen.›» Aufgewachsen in Curaglia GR als Tochter einer Rätoromanin und eines Romands, ist Pally seit ihrer Kindheit vielsprachig. Das kam ihr im Druckereizentrum zugute. «Morgen Abend», erzählt sie in ihrem Schrebergarten, «kommt ein ehemaliger portugiesischer Mitarbeiter des Papierlagers mit seiner Frau zu Besuch.»

Wie einige ehemalige NZZ-Print-MitarbeiterInnen wohnt Pally, die 25 Jahre als Sachbearbeiterin im Druckereizentrum arbeitete, noch immer im Gebiet Schlieren-Dietikon-Unterengstringen an der westlichen Zürcher Stadtgrenze. Auf dem Tisch unter der Pergola, umrankt von Kürbissen und Melonen, liegt eine grosse Schlangenzucchetti. Und daneben die aktuelle Ausgabe der NZZ – alle Ehemaligen erhalten die Zeitung weiterhin kostenlos.

Pally kam Anfang 1990 als Handelsschulabsolventin über ein Temporärbüro zur NZZ-Druckerei – zwei Monate nach dem Umzug nach Schlieren. Die ersten Monate arbeitete sie zwei bis drei Stunden vormittags. «Die Kinder waren noch schulpflichtig, und so war das ein idealer Wiedereinstieg ins Berufsleben.»

Ein halbes Jahr später wurde sie fest angestellt. «Einmal kam der Rampenchef zu mir ins Büro, das anfangs noch im Sanitätszimmer war, und sagte: ‹Frau Pally, ich gehe morgen in die Ferien. Können Sie das übernehmen?›» So wuchs sie als damals einzige Frau im technischen Dienst in die Rolle der Chefsekretärin hinein. Später war Pally auch in der Logistik und zuletzt für die Bewirtschaftung des Papierlagers mit zuständig. «Für mich waren die 25 Jahre NZZ die schönste berufliche Zeit meines Lebens», sagt sie. «Mit den meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern habe ich mich bestens verstanden.»

Zum Schluss ein Grossauftrag

Laura Müller, Franco Brajkovic, Jasmin Kündig, João Marco Varella Ledermann, Rita Pally, Giuseppe Bufalino, David Pierlot und Peter Schönmann sind 8 von 125 MitarbeiterInnen, die durch die Schliessung der NZZ-Druckerei in Schlieren im Juni 2015 ihren Job verloren. Immerhin: 69 von 73 in der Produktion Beschäftigen, die noch zu jung waren, um wie 33 ältere KollegInnen frühpensioniert zu werden, haben bis zur Schliessung eine neue Stelle gefunden. Demgegenüber hat der Konzern durch die Schliessung rund zwölf Millionen Franken an Investitionen und etwa zehn Millionen Lohnkosten pro Jahr gespart – und mit dem Verkauf der Liegenschaft und des Maschinenparks viele weitere Millionen kassiert. Ein Teil davon, so wurde angekündigt, soll in die Weiterentwicklung des digitalen Bereichs fliessen – der andere den Gewinn maximieren.

Doch was war ausschlaggebend für die Schliessung eines solchen Traditionsunternehmens? Und vor allem: eines zu diesem Zeitpunkt rentablen, topmodernen Betriebs? NZZ-CEO Veit Dengler führte anstehende Investitionen im zweistelligen Millionenbereich, sinkende Zeitungsauflagen und erodierende Margen ins Feld. Doch wenn die Lage so dramatisch gewesen sein soll: Warum hatte man nur drei Monate zuvor noch einen Fünfjahresvertrag für einen Grossauftrag, eine Teilauflage der «Coopzeitung», abgeschlossen?

Nach dem Anruf seines Kollegen an jenem Dienstagnachmittag habe er eine Weile gebraucht, um die Nachricht zu verarbeiten, sagt David Pierlot. Als Vertreter seiner Abteilung in der Betriebskommission sei er aber schnell mit der Realität konfrontiert worden. «Zuerst versuchten wir, Wege zu finden, wie man den Betrieb noch retten könnte», sagt der gebürtige Belgier und gelernte Automechaniker, der seit 2005 bei NZZ Print arbeitete, nachdem er zuvor als Au-pair und Pizzakurier tätig gewesen war. «Bald aber wurde klar: Eine Rettung ist chancenlos. Ab da setzten wir alles auf einen möglichst guten Sozialplan.»

Am 30. Juni 2015, als die gigantische Rolloffsetdruckmaschine Evolution 471 in Schlieren ihre Dernière hat, leitet Pierlot noch eine allerletzte Spätschicht. Ein paar Stunden später bereits setzt er sich in Küsnacht in sein Auto und fährt nach Aarau: zur Mittelland-Zeitungsdruckerei.

* Name geändert.

Dies ist der 1. Teil des Textes «Game over» zur Schliessung der NZZ-Print-Druckerei. Den 2. und 3. Teil lesen Sie hier:
Game over (Teil 2): Wie es überhaupt so weit kommen konnte
Game over (Teil 3): Eine letzte Runde für die «Evolution 471»

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