Joan Didion: Die Wiederentdeckung einer Ikone

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Der Dokfilm über Joan Didion auf Netflix machte die US-amerikanische Autorin und Essayistin auch bei einer jüngeren Generation bekannt. Am 5. Dezember wird die unerschrockene Pionierin des New Journalism 85 Jahre alt.

Joan Didion: «Ich fand immer, dass Dinge ihren Schrecken verlieren, wenn ich sie ganz genau ansehe.» Foto: Netflix / Keystone

Beim Abendessen hörte das Leben, das sie kannte, auf. Es war der 30. Dezember 2003. Am Nachmittag hatten sie und ihr Mann ihre Tochter im Spital auf der Intensivstation besucht. Aber nicht die Tochter stirbt, sondern ihr Mann, an akutem Herzversagen. «Das Leben ändert sich in einem Augenblick. Man setzt sich zum Abendessen, und das Leben, das man kennt, hört auf», schrieb Joan Didion nur einen oder zwei Tage später. Die Notizen sind Ausgangspunkt einer akribischen Selbsterforschung, in der sie dem Chaos von Abwesenheit und Alleinsein die ordnende Kraft des Schreibens entgegensetzt.

«The Year of Magical Thinking» («Das Jahr magischen Denkens»), das 2005 mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde, ist das hierzulande bekannteste Buch der US-amerikanischen Autorin. Joan Didion protokolliert darin, wie sie nach dem Tod von John Gregory Dunne, mit dem sie fast vierzig Jahre Leben und Schaffen teilte, äusserlich funktioniert, eine Autopsie verlangt, die Trauerfeier organisiert und dennoch zugleich einem «magischen Denken» verfallen ist. Die Schuhe ihres Mannes kann sie nicht weggeben, überzeugt, John kehre zurück, wenn sie nur den Punkt finde, wo der Alltag in Anomalie gekippt war. Sie greift Erinnerungen aus dem gemeinsamen Leben auf, doch nach genau einem Jahr wird ihr bewusst, dass ihre Erinnerung an das zurückliegende Jahr zum ersten Mal John nicht mit einbezieht: Er hatte diesen Tag nicht erlebt, John war tot. «Wenn wir selbst leben wollen, kommt irgendwann der Punkt, an dem wir die Toten tot sein lassen müssen. Sie zum Foto auf dem Tisch werden lassen», hält sie fest. Gerade wegen seiner Nüchternheit, der kühlen Reflexion und der Abwesenheit von jeglichem Pathos entfaltet der Text eine emotionale Wucht. Noch bevor das Buch fertig ist, ereilt Didion ein zweiter Schicksalsschlag. Nach zwanzig Monaten zwischen Leben und Tod stirbt ihre Adoptivtochter Quintana mit nur 39 Jahren.

Weg in die Leere

Auch diesen Verlust versucht Didion durch ihr Schreiben zu fassen. 2011 erscheint «Blue Nights» («Blaue Stunden»), ein Buch, das keinen Trost mehr bietet. Allein in seiner Struktur lässt der Text die existenzielle Erschütterung durch den Tod der Tochter greifbar werden. Auch dieses Buch versammelt Erinnerungen, ist aber zudem gespickt mit Selbstvorwürfen und Ängsten. «Dieses Buch heisst ‹Blaue Stunden›, weil ich mich gedanklich immer stärker dem Ende des Versprechens zugewandt habe, den kürzer werdenden Tagen, der Unausweichlichkeit des Vergehens, dem Sterben des Glanzes. Blaue Stunden sind das Gegenteil sterbenden Glanzes, aber sie sind auch seine Vorboten», schreibt Didion zu Beginn des Buchs. Die Zeit der Wünsche ist vorbei. Erinnerungen handeln per Definition von Verschwundenem. Was geschieht, «wenn das Bewusstsein von der vergehenden Zeit – dieses beständige Schwächerwerden, diese schwindende Belastbarkeit – sich multipliziert, metastasiert, zum eigentlichen Leben wird»? Das Erinnerungsbuch ist zugleich das Dokument eines Weges in die Leere. Es berührt in der scharfen Sezierung der Wirklichkeit und erschüttert in seiner erbarmungslosen Ehrlichkeit.

Ausserhalb der USA gelangte die damals bereits über siebzigjährige Joan Didion mit ihren beiden Trauerbüchern zu später Berühmtheit. Und doch sind die beiden Texte die logische Konsequenz ihres bisherigen Lebens und Schaffens. «Ich fand immer, dass Dinge ihren Schrecken verlieren, wenn ich sie ganz genau ansehe», sagt sie.

Didion wird 1934 im kalifornischen Sacramento geboren. Sie gewinnt einen Job bei der «Vogue», zieht nach New York, schreibt Bildlegenden für das Magazin und arbeitet nachts an ihrem ersten Roman, «Run, River» («Menschen am Fluss»). In einem ihrer Essays zeichnet sie ein Porträt der Stadt und lässt das Lebensgefühl durch ihre eigene Erfahrung plastisch werden. New York sei eine Stadt nur für die ganz Jungen, schreibt sie. Und: «Es dauerte sehr lange, bis ich die Lektion zu verstehen begann, die darin bestand, dass es sehr gut möglich ist, das Fest zu spät zu verlassen.»

Mit ihrem Mann John Gregory Dunne, wie sie Schriftsteller, Journalist, Drehbuchautor, kehrt sie nach Kalifornien zurück in ein Leben im Golden State in den goldenen Jahren der US-amerikanischen Kultur. Sie ist mittendrin, erlebt die sechziger und siebziger Jahre aus nächster Nähe, trifft Joan Baez und Janis Joplin, Jim Morrison und die Doors und schreibt dennoch mit kritischem Blick über die Hippies, über den Rock ’n’ Roll, die Drogen, Hollywood und die Zeit des Umbruchs. Ihr Essay «Slouching towards Bethlehem» («Die Stunde der Bestie») von 1968 macht sie auf einen Schlag berühmt. In losen Sequenzen lässt sie darin das idealisierte Bild der Gegenkultur implodieren. Höhepunkt ist die Szene, in der sie auf ein fünfjähriges Mädchen auf LSD trifft. So etwas zu finden, sei Gold, sagt sie im Dokumentarfilm «Die Mitte wird nicht halten» ihres Neffen Griffin Dunne, der 2017 auf Netflix veröffentlicht wird und die aktuelle Wiederentdeckung der Joan Didion einleitet.

«Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben», schreibt Didion im Essayband «The White Album» («Das weisse Album»), ihrem vielleicht besten Werk. Nur um gleich darauf festzuhalten, wie sie begann, an allen Geschichten zu zweifeln, und einen Bogen zwischen ihrem eigenen Nervenzusammenbruch und der Paranoia der Gesellschaft zu schlagen. Der persönliche Blick, mit dem sie sich als Autorin immer in ihre Texte einbezieht, stets darauf bedacht wiederzugeben, wie sich etwas anfühlte: Das macht die Stärke ihrer Texte aus, und es macht sie zu einer Pionierin des New Journalism, des subjektiven Stils, der in den sechziger Jahren die Grenze zwischen Literatur und Journalismus verschob.

Fast durchsichtig

«Schriftsteller liefern immer jemanden ans Messer», sagt Joan Didion, die ihre geringe Grösse, ihre Unscheinbarkeit und ihre Verlegenheit um Worte zum Vorteil umdeutete. Zerbrechlich, fast durchsichtig sieht sie im Dokumentarfilm aus, als Barack Obama sie 2012 mit der National Humanities Medal würdigt. Ihre Essays und Reportagen zeichnen eine psychosoziale Kartografie Kaliforniens von den ersten SiedlerInnen bis hin zu den Nerds vom Silicon Valley. Und auch ihre politischen Texte über Miami oder El Salvador bestechen durch unbestechliche Beobachtung. Sie sind Grundlage für ihren jüngst auf Deutsch übersetzten Roman «The Last Thing He Wanted» («Das Letzte, was er wollte»), einen Thriller, der auch verfilmt wurde und im kommenden Jahr im Kino und auf Netflix zu sehen sein wird. Gemäss «Indiewire» gehört er zu den zwanzig meist ersehnten Filmen des Jahres. Doch die beste Art, sich Joan Didion zu nähern, ist über ihre Texte: Sie zeigen, dass guter Journalismus auch ein halbes Jahrhundert überdauern kann.