Im Zweifel für die Fiktion Historische Dramen wie «Chernobyl» oder «When They See Us» wollen aufklären. Dafür sperren uns diese Serien in einen Käfig der Realitätstreue und der «richtigen» Interpretation. Dagegen hilft nur der Kunstgriff einer echten Fiktion.

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Die Miniserie «When They See Us» schlug in den USA ein wie eine Bombe – und brachte eine angesehene Strafverteidigerin zu Fall. Stills: Atushi Niojima / Netflix

Noch 2018 wurde die pensionierte New Yorker Strafverfolgerin Linda Fairstein in den US-Medien als juristische Celebrity gefeiert: als Krimibestsellerautorin, als Vorbild für verschiedene Figuren der TV-Serie «Law and Order», als jahrzehntelange Kämpferin für die Rechte vergewaltigter Frauen. Doch nach dem 31. Mai 2019 war alles anders. Fairsteins Verleger liess sie fallen, sie musste von diversen Ehrenämtern zurücktreten, das Magazin «Glamour», das alljährlich eine viel beachtete «Frau des Jahres» kürt, informierte seine 1,5 Millionen LeserInnen, es sei ein Fehler gewesen, ihr 1993 den Award zu verleihen. Auf Twitter kursierte der unmissverständliche Hashtag #cancellindafairstein (löscht Linda Fairstein). Was war geschehen?

Skandal und Schockstarre

Geschehen war eine vierteilige Miniserie, die der Streamingriese Netflix Ende Mai platzen liess wie eine Bombe. Sie trägt den Titel «When They See Us» und erzählt als «historisches Drama» einen Justizskandal nach, der eigentlich seit 2002 bekannt gewesen war. Im Fokus der von der afroamerikanischen Regisseurin Ava DuVernay («Selma») inszenierten Serie stehen fünf schwarze New Yorker Jugendliche, die als «Central Park Five» in die Geschichte eingegangen sind: Antron McCray, Yusef Salaam, Korey Wise, Raymond Santana und Kevin Richardson wurden 1990 in zwei aufsehenerregenden Prozessen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.

Eine Jury befand die Vierzehn- bis Sechzehnjährigen für schuldig, am 19. April 1989 im Central Park an der Vergewaltigung und massiven Misshandlung einer 28-jährigen weissen Joggerin beteiligt gewesen zu sein und zuvor weitere ParkgängerInnen verprügelt zu haben. Die leitende Staatsanwältin: Linda Fairstein. Die Verurteilten waren in der Tatnacht im Park gewesen und hatten bei einer ersten Verhörrunde Geständnisse abgelegt, die sie später widerriefen. Forensische Beweise gegen sie gab es keine, das Vergewaltigungsopfer konnte sich an nichts erinnern.

2002 dann die spektakuläre Wende. Ein wegen anderer Vergehen lebenslänglich eingesperrter Frauenmörder gestand, die Joggerin damals vergewaltigt zu haben – allein, ohne Komplizen. Eine DNA-Analyse ergab, dass er zweifelsfrei der Täter war. Die Schuldsprüche gegen alle fünf wurden aufgehoben, Korey Wise, der als Einziger noch in Haft war, wurde entlassen. 2003 verklagten die zu Unrecht Verurteilten die Stadt New York auf Schadenersatz. Doch erst nachdem Bill de Blasio 2014 zum Bürgermeister gewählt worden war, erhielten sie die rekordhohe Abfindung von 41 Millionen Dollar.

Fairstein überstand all diese Enthüllungen und juristischen Kehrtwenden fast ohne Imageschaden. Auch «The Central Park Five» (2012), ein fundiert recherchierter Dokumentarfilm, der die fünf Justizopfer ausführlich zu Wort kommen lässt, konnte ihrem Ruf wenig anhaben. Erst die dramatisch aufbereitete Serie «When They See Us» brachte sie nun zu Fall. Warum?

Erzählt wird eine Geschichte ohne doppelte Böden oder andere Geheimnisse, zugespitzt und personalisiert entlang von scharf konturierten Opfer- und Täterfiguren. DuVernay setzt ganz auf die emotional aufgeladene Wucht ihrer Opferschicksale. Sie zapft unsere gerechte Wut über das himmelschreiende Unrecht an: unsere Empörung über die gestohlene Jugend, die rassistisch gesteuerten, einseitigen Ermittlungen, die gewaltsamen Einschüchterungen und Erpressungen, die autoritär auftretende Fairstein.

Der Soundtrack, die Nahaufnahmen schockstarrer Gesichter, das familiäre Leid – alles wird als Verstärker dieser einen Gefühlslage eingesetzt. Fast scheint es, als müsste sich hier endlich etwas zweifelsfrei Bahn brechen, das bis jetzt nicht zu seinem Recht gekommen war. Die ungerechte Realität, gerichtet durch die fiktional aufbereitete wahre Geschichte.

Fakt und Fabrikation

«Ihre Unschuld erhielt nie dieselbe Aufmerksamkeit wie ihre Schuld», konstatiert messerscharf die Schwester eines der zu Unrecht Verurteilten im Dokumentarfilm «The Central Park Five». Um wirklich zu verstehen, wie tief verästelt dieser Fall in die New Yorker Psyche und die historische Realität am Ende der achtziger Jahre hineinragt, reicht «When They See Us» als Informationsquelle kaum aus. Jener Dokfilm etwa stellt viel mehr Kontext bereit. Und bereits im Januar 1991, also kurz nach Prozessende, hat Joan Didion mit «Sentimental Journeys» einen langen Essay vorgelegt, der hellsichtig auffächert, was in diesem Fall alles mitschwingt.

Didion streift die zweifelhafte Beweislage der Anklage, seziert aber vor allem ausführlich die sentimentale, medial gepushte Geschichte von der vergewaltigten weissen, unschuldigen Frau, die mit der «vergewaltigten», weil kriminalitätsgeschüttelten Grossstadt bildhaft in eins gesetzt wurde – unter Ausblendung aller Fragen nach Ursachen wie Armut oder Rassismus. Didion beschreibt, wie das Trauma des Börsencrashs von 1987, der kaputtgesparten Institutionen und abgehängten New Yorker Quartiere hinter der endlos beschworenen Angst vor dem omnipräsenten «Verbrechen» verschleiert wurde. Und sie weist nach, dass es damals viele weitere Vergewaltigungen und Frauenmorde gab, die kaum beachtet wurden, weil die Opfer nicht weiss oder die Täter keine jungen schwarzen Männer waren.

Abgesehen von ihrem geschärften Blick auf den Rassismus liefert Ava DuVernay kaum solche weiterführenden Analysen. Das macht die Kernaussage ihrer Serie nicht irrelevanter, bloss etwas erkenntnisarm. Erkenntnisarm, aber dafür umso schlagkräftiger? Dazu passt, dass die Anklage des Films am Ende vor allem Fairstein als designierte Übeltäterin der erzählten Geschichte traf – und nur in zweiter Linie den systemischen Rassismus und die Verhörmanipulationen des ganzen Ermittlerkorps, ohne die der Fall kaum diese fatale Wendung genommen hätte.

Fairstein wehrte sich. Im «Wall Street Journal» behauptet sie, weder seien die Verurteilten unschuldig gewesen, noch habe sie selbst sich etwas zuschulden kommen lassen. «When They See Us» erzähle eine «falsche Geschichte», ja, die ganze Serie sei eine «totale Fabrikation». Stichhaltige Beweise, die ihre unbelehrbare Haltung stützen würden, bleibt sie allerdings schuldig.

«Fabrikation» ist ein vertrackter Vorwurf im Zusammenhang mit einem Fall, der längst selbst als massive Fabrikation entlarvt wurde: Die falsche Verurteilung der fünf beruhte auf einer manipulierten Rekonstruktion der Geschehnisse und auf forcierten Geständnissen, die man den verängstigten Jugendlichen in den Mund legte mit dem falschen Versprechen, sie könnten dann nach Hause. Die JournalistInnen der grossen Blätter und TV-Stationen waren zu träge oder blind für eigene Recherchen und machten sich so zu KomplizInnen des falschen Gerichtsurteils.

Aber auch Fairstein selbst verwischt mit ihrer Parallelkarriere als erfolgreiche Autorin von Krimis über die fiktive Staatsanwältin Alexandra Cooper, die ihr aufs Haar gleicht, mutwillig die Grenzen zwischen Realität und Erfindung. In diesen einfach gestrickten Krimis sind Cops und Staatsanwältin genauso übertrieben jovial und witzig gezeichnet, wie die Cops und Strafverfolgerinnen von «When They See Us» böswillig und aggressiv erscheinen.

Hat hier am Ende also nebst der «Netflix-Justiz» auch eine Art poetische Gerechtigkeit zugeschlagen? Einiges deutet darauf hin, dass Fairstein nicht zufällig vom fatalen Gewirr aus Fakt und Fabrikation eingeholt wurde, das diesen Kriminalfall bis ins Innerste durchdringt und an dem sie selbst entscheidend mitgebastelt hat. Weit über «When They See Us» hinaus weisen aber andere Fragen: Was bedeutet Realitätstreue bei historischen Fiktionen, und warum ist uns diese Wirklichkeitsnähe so wichtig? Könnte nicht auch eine reine Erfindung Wahrheit und Wirklichkeit transportieren?


Wahres über die Katastrophe

Anfang Juni 2019 unterzog die Russlandexpertin Masha Gessen eine anderes historisches Drama einem Faktencheck. Unter dem Titel «Was die HBO-Serie ‹Chernobyl› richtig hinkriegt und wo sie furchtbar danebenliegt» kam Gessen im «New Yorker» zum Schluss, dass die fünfteilige Miniserie über die Reaktorkatastrophe von 1986 Stimmung und «Materialität» der späten Sowjetunion gut getroffen habe. Auch die Rede eines Apparatschiks, der das Desaster vertuschen wollte, fand sie trefflich. Gar nicht einverstanden war sie dagegen mit den Hauptfiguren. Diese seien viel zu individualistisch gezeichnet: keine vom System zermürbten Sowjetmenschen, sondern HeldInnen hollywoodscher Prägung, WahrheitssucherInnen, die sich nicht scheuten, im Dienst der Aufklärung den Mächtigen an den Karren zu fahren. Hier kippt für Gessen die Fiktion in den Fake.

Was sofort auffällt: Wie «When They See Us» setzt «Chernobyl» auf typische fiktionale Stilmittel. Die Geschichte ist personalisiert und dramatisch zugespitzt. Drei – idealisiert überzeichnete – Figuren treiben die Handlung voran: ein Reaktorspezialist, ein Abgeordneter des Politbüros und eine Nuklearphysikerin. Letztere hat im Gegensatz zu den beiden anderen kein historisches Vorbild, sondern verkörpert ein Konglomerat mehrerer WissenschaftlerInnen, was im Abspann deklariert wird.

Inspiriert von Swetlana Alexijewitschs vielstimmiger Oral History «Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft», kommen weitere AkteurInnen zu Wort: die Frau und bald Witwe eines verstrahlten Feuerwehrmanns etwa; Mineure, die unter dem explodierten Reaktor einen Stollen graben; sogenannte Exterminatoren, die in den evakuierten Zonen zurückgelassene verstrahlte Haustiere erschiessen und in Beton eingegossen begraben.

Die Köpfe hinter «Chernobyl» – der US-Komödienspezialist Craig Mazin und der schwedische Clipregisseur Johan Renck als überraschendes Gespann – lösen so clever ein, was die Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk kürzlich in ihrer Rede vor der schwedischen Akademie als ultimativ zeitgemässes Merkmal von Serien definiert hat: Sie versetzen uns in eine Trance und erzählen «die Geschichte der Welt» in multiplizierten Narrativen und Figuren – fluid und widersprüchlich.

Oder wie es der deutsche Filmemacher Christian Petzold in der Filmzeitschrift «Cargo» zusammenfasst: «Chernobyl» bediene nicht den allwissenden Gestus des «Es war einmal», sondern fächere sich auf in unterschiedliche «Erzählpositionen mit einem gemeinsamen Fluchtpunkt: die Reaktorkatastrophe». Petzold lobt auch das eigenwillige Sounddesign der isländischen Komponistin Hildur Gudnadottir, das die Serie quasi von der Tonspur her verstrahle. So werde der «Komplex Tschernobyl» verdichtet «erfahrbar gemacht».

Erfahrbar – und auch konsumierbar. Denn in «Chernobyl» ist die traumatische, unwirkliche Wirklichkeit der Nuklearkatastrophe zurechtgestutzt und in den vertrauten Spannungsbogen eines Kriminalfalls eingepasst: Auf Unfall folgen Ermittlung und Aufklärung, Konfrontation der Schuldigen, schliesslich die Bestrafung. «Chernobyl», diese amerikanisch infizierte Investigation eines sowjetrussischen GAU, ist also gewiss kein realitätstreues Abbild dessen, «wie es wirklich gewesen ist». Aber selbst Gessen musste zugeben, dass die Serie auf teilweise erfundenen Wegen viel Wahres über die Reaktorkatastrophe und ihre Folgen erzählt.

Auf den Kopf gestellt

Keine Lüge, kein Fake also, sondern eine selbstreflexive, mit vielen Wirklichkeitspartikeln und Zeitkolorit angereicherte Fiktion. Trotzdem kommt auch «Chernobyl» bei aller klugen Systemanalyse nicht ohne einen schmierigen Bösewicht aus, der im Kontrollraum des AKW alle einschüchtert und den Unfall mit seiner Fahrlässigkeit entscheidend mitverursacht. Das ist die Krux der Personalisierung. Zugleich suggerieren diese historischen Miniserien, ein abgeschlossenes Paket zu liefern: alles, was du über Tschernobyl oder die «Central Park Five» wissen musst, in vier oder fünf einstündigen Folgen.

Doch wie entkommen wir aus dem Käfig der fetischisierten Realitätstreue und der säuberlich abgepackten Geschichtslektionen für die Generation Netflix? Die erste Folge der neuen, rein fiktionalen HBO-Serie «Watchmen» (2019) weist einen Ausweg. «Watchmen» basiert lose auf einer Graphic Novel aus den Achtzigern, der Stoff wurde aber neu aufbereitet und kombiniert nun seine schrille nachtseitige Superheldenbande mit den Nachwirkungen des historischen Massakers von Tulsa, dem US-Städtchen, wo 1921 ein entfesselter rassistischer Mob ein schwarzes Quartier niederbrannte und Hunderte seiner BewohnerInnen ermordete. Das Blutbad wurde jahrzehntelang verschwiegen und verdrängt. Erst 2001 erschien ein offizieller staatlicher Bericht dazu, im Dezember 2019 wurden mögliche Spuren eines Massengrabs gefunden.

In «Watchmen» geht es nun nicht darum, nachzuzeichnen, was «wirklich» bei diesem Massaker geschah, sondern viel grundsätzlicher darum, zu verstehen, dass der ungesühnte, alte Rassenhass wie ein Wiedergänger bis heute weiter wütet. Und dass sich dieser Wiedergänger auch nicht mit einer simplen Einsortierung in Gut und Böse ruhigstellen lässt.

Statt ein prekäres «Wie es gewesen ist» zu rekonstruieren, erfindet «Watchmen» kühn, was sein könnte: Eine buntscheckige Geheimpolizei aus maskierten SuperheldInnen tritt dabei gegen eine neue Verschwörung weisser RassistInnen an. Dass hier ein Kampf inszeniert wird, hilft gegen die Resignation angesichts des Schreckens. Aber wie vermeiden die Kämpfenden, so zu werden wie das, was sie bekämpfen? Immer wieder wird alles hinterfragt und auf den Kopf gestellt – auch die Filmbilder und Mythen der Serie selbst, ebenso wie die anhaltende Obsession mit SuperheldInnen in der US-Popkultur.

«Watchmen» markiert «blosse Durchgangspunkte des Denkens auf dem Weg zur Erkenntnis». So definiert der Literaturwissenschaftler Thomas Strässle in «Fake und Fiktion», seinem Essay «über die Erfindung von Wahrheit», den indirekten Weg der Fiktion. Diese stets ambivalente fiktionale Wahrheit bleibt genauso verhüllt wie die geheimnisvollen «Watchmen». Auch zig weitere Symbole und Rätsel der Serie müssen zuerst aktiv entschlüsselt werden. Wir Zuschauenden sind so stets mitdenkende Teile des fiktionalen Räderwerks. Ganz anders als bei «When They See Us» oder «Chernobyl», wo man uns zu passiven KonsumentInnen des historisch verbürgten Horrors macht. Und uns unzweideutig vorgibt, wie wir das Erzählte zu interpretieren haben.

«When They See Us». Idee und Regie: Ava DuVernay. USA 2019. Netflix.

«Chernobyl». Idee: Craig Mazin, Regie: Johan Renck. USA/GB 2019. Auf Deutsch bei Sky oder Prime Video.

«Watchmen». Idee: Damon Lindelof. USA 2019. Auf Deutsch bei Sky.

Thomas Strässle: «Fake und Fiktion. Über die Erfindung von Wahrheit». Carl Hanser Verlag. München 2019. 95 Seiten. 26 Franken.

«Watchmen» kombiniert eine schrille nachtseitige Superheldenbande mit den Nachwirkungen des historischen Massakers von Tulsa. Stills : @Sky / HBO

Die Nobelpreisrede von Olga Tokarczuk ist in Englisch auf www.nobelprize.org nachzulesen.