Joan Didion (1934–2021): Schreiben, um die Welt zu ertragen

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Ihre Arbeit begann, wenn alle vergessen hatten, dass sie überhaupt da war. Joan Didions Erscheinung begünstigte das: 1 Meter 52 gross, zartgliedrig, schweigsam. Sie konnte im Raum verschwinden, ganz Beobachtung werden, ein alles sehendes Auge. Ihre Methode war teilnehmend, aber nicht einfühlend, sondern aufsaugend. In einem quasi alchemistischen Prozess verwandelte sie das durchgedachte Aufgesaugte in herausragende Texte. Ihre Sätze sind formvollendet, messerscharf – Journalismus mit Stilmitteln der Literatur. «Man musste nicht mit ihr einverstanden sein, aber ihren Sätzen musste man sich fügen», so die Schriftstellerin Zadie Smith.

Die Kalifornierin Joan Didion war im Pressetross mit den Bushs und Bill Clinton auf Wahlkampftour – und schrieb dann den Essayband «Political Fictions», eine Abrechnung mit der politischen Kultur der USA, wo Slogans wie «Making a difference» zur Farce werden, weil die Politiker:innen sich immer mehr angleichen. Sie war Reporterin am Prozess gegen die «Central Park Five» – und lieferte nach der skandalösen Verurteilung der Schwarzen Jugendlichen nicht einfach einen Prozessbericht, sondern das Sittenbild einer Gesellschaft, die mit rassistisch zurechterzählten Verbrechen von der eigenen sozialen Zerrüttung ablenkt. Sie war an der Kriegsfront in El Salvador und an der Hippiefront in Kalifornien, wo sie der neu erleuchteten Mittelklasse beim Kiffen und Trippen zuhörte.

Anstatt flüchtige journalistische Schlaglichter zu werfen, war sie mit der Verfertigung von gültigen Wahrheiten beschäftigt, die man auch Jahrzehnte später noch gierig nachliest. Didions Texte sind Zeitkapseln, voll mit gespeicherter Vergangenheit, die fremd erscheinen kann. Was von ihr auch zu lernen ist: Man kann nie genug gelesen haben. Ihre vom subjektiven Ausgangspunkt ausgreifenden Texte sind gesättigt mit Sachwissen und kulturellen Essenzen. Lesen und Schreiben waren Didions Überlebensstrategien. Vielleicht ist es kein Zufall, dass ihre bekanntesten Bücher zwei Traueressays sind: 2003 starb ihr langjähriger Partner ganz plötzlich an einem Herzinfarkt, eineinhalb Jahre später, nach längerer Krankheit, ihre Tochter. Didion verarbeitete das in «Das Jahr des magischen Denkens» und in «Blaue Stunden». Noch zu entdecken sind hierzulande ihre frühen Arbeiten, die Essaysammlung «Das Weisse Album» etwa über die 1960er und 1970er mit dem Satz: «Alles war unaussprechlich, nichts unvorstellbar.»

Am 23. Dezember ist Joan Didion in New York an Parkinson gestorben.