Quinn Slobodian: «Wir erleben die grösste Spaltung im neoliberalen Lager seit Jahrzehnten»

Nr. 50 –

Der Historiker Quinn Slobodian räumt in seinem gefeierten Buch «Globalisten» mit populären Missverständnissen über den Neoliberalismus auf. Im Interview erklärt der Kanadier, warum die Verteidiger des Markts im Clinch liegen – und was die Linke von Friedrich Hayek lernen kann.

«Die Neoliberalen glauben, dass der Kapitalismus einen starken Staat benötigt – allerdings natürlich einen, der ganz andere Dinge tut als ein sozial­demokratischer Staat»: Quinn Slobodian.

WOZ: Quinn Slobodian, wenn man heute von «Neoliberalismus» spricht, wenden Liberale häufig ein, dass dies ein blosser Kampfbegriff sei. Was würden Sie darauf entgegnen?
Quinn Slobodian: Tatsächlich ist das Wort «Neoliberalismus» sehr verschieden gebraucht worden. Zum einen, um die Zeitspanne von den späten siebziger Jahren bis in die Gegenwart zu beschreiben, die auch als die «neoliberale Ära» bezeichnet wird. Hier dient «Neoliberalismus» zur Kennzeichnung einer Periode des globalen Kapitalismus. Daneben wird der Begriff auch gebraucht, um eine Art der Rationalität zu kennzeichnen: dass wir uns als Humankapital begreifen, dessen Wert wir zu maximieren versuchen. Hier bezeichnet «Neoliberalismus» eine Logik, eine Art der Subjektivität, bei der wir Unternehmer unserer selbst sind.

Und jenseits dieser beiden Gebrauchsweisen?
Die dritte Bedeutung, in der von Neoliberalismus die Rede ist, entspricht der Art, wie ich den Begriff in meinem Buch verwende, nämlich um eine intellektuelle Bewegung zu markieren. Diese setzt in den dreissiger Jahren infolge der Grossen Depression ein, als auch der Begriff «Neoliberalismus» geprägt wurde – und zwar von Liberalen, die meinten, dass der alte Laissez-faire-Kapitalismus keine Option mehr sei und die Rolle des Staates neu gedacht werden müsse. In den Jahren danach war es für Ökonomen wie Friedrich Hayek oder Milton Friedman zunächst üblich, sich selbst als Neoliberale zu bezeichnen. Hayek sagte in den Fünfzigern explizit, dass es das Ziel der Mont-Pèlerin-Gesellschaft sei, die er 1947 mitbegründet hatte, das neoliberale Denken weltweit zu verbreiten.

Später allerdings wollten sie nicht mehr als Neoliberale gelten?
Ja. Diese Gruppe diskutierte zwar weiter darüber, wie der Kapitalismus für die Zukunft zu retten sei, aber aus Gründen, die unklar sind, hörten sie auf, sich Neoliberale zu nennen. Das Wort taucht erst wieder in den Neunzigern auf, dann aber tatsächlich häufig als «Kampfbegriff», im Wortschatz von Kritikern des globalen Kapitalismus also. Ich gebrauche den Begriff ausschliesslich in besagtem engeren Sinn: um eine Ideologie zu beschreiben, die von einer bestimmten Gruppe von Leuten ausgearbeitet wurde. Ich glaube auch, dass es sinnvoll ist, den Begriff nur so zu gebrauchen: Ein Beleg dafür ist, dass Neoliberale inzwischen eher bereit sind, sich selbst so zu nennen – etwa das Adam Smith Institute, ein britischer Thinktank, den es schon lange gibt, der aber erst vor ein paar Jahren sein Coming-out als «neoliberales» Institut hatte.

Warum genau sind diese Leute nun eher bereit, sich dieses Label anzuheften?
Weil die Bezeichnung «libertär», die sie bislang favorisierten, irreführend ist, da das heissen würde, dass sie den Staat loswerden wollen. Tatsächlich aber glauben sie, dass der Kapitalismus einen starken Staat benötigt – allerdings natürlich einen, der ganz andere Dinge tut als ein sozialdemokratischer Staat.

Das entspricht einer Ihrer zentralen Thesen: In Ihrem Buch verwerfen Sie die verbreitete Vorstellung, wonach Neoliberale daran glauben, dass der Markt sich selbst reguliert und am besten ohne Staat auskommen würde.
Genau. Als die britische Premierministerin Margaret Thatcher etwa davon sprach, dass der Staat zurückgedrängt werden müsse, bedeutete dies zugleich, dass eine andere Art Staat ausgebreitet werden soll. Der Grund dafür, dass die Linke so an der Vorstellung hängt, Neoliberale würden einen sich selbst regulierenden Markt wollen, liegt wohl darin, dass es dadurch sehr einfach ist, Kritik zu üben. Dann lässt sich sagen: Schaut, wie lächerlich die Neoliberalen sind – ist doch klar, dass es einen Staat braucht! Allerdings reicht schon die Lektüre von zehn Seiten von Denkern wie Hayek, Wilhelm Röpke oder Walter Eucken, um zu sehen, dass deren Gedanken um die Etablierung einer anderen Art Staat kreisten – und nicht darum, den Staat als solchen zu schrumpfen. Ein berühmter Vortrag des deutschen Ordoliberalen Alexander Rüstow trägt entsprechend den Titel «Freie Wirtschaft, starker Staat».

Sie zeigen, dass die internationalen Institutionen, die die Neoliberalen ersannen, den Markt vor demokratischem Zugriff abschirmen sollten: vor Bewegungen und gewählten Regierungen, die den Reichtum umverteilen wollten. Ist der Neoliberalismus im Kern antidemokratisch?
Den Neoliberalen geht es wie gesagt nicht einfach um eine «Befreiung der Märkte», sondern vielmehr um deren Ummantelung: Nur rechtliche Strukturen ermöglichen freien Handel und die freie Bewegung des Kapitals. Wenn man das anerkennt, ist eine wirkliche Debatte darüber möglich, welche Art der Regulierung wünschenswert ist. Im Idealfall vollzieht sich diese Diskussion in einem demokratischen Diskurs, in dem alle ihre Vorstellungen einbringen. Genau das war aber die Hauptsorge der Neoliberalen im 20. Jahrhundert: Sie betrachteten das demokratische Prinzip «Ein Mensch, eine Stimme» als neue Realität, die die Moderne mit sich gebracht hat – als etwas, das man nicht so einfach wieder loswird, allerdings auch nicht unbedingt loswerden muss. Sowohl Ludwig von Mises als auch Hayek lobten die Demokratie als bislang friedlichstes Mittel, um politischen Wandel herbeizuführen.

Allerdings zitieren Sie Hayek mit dem anlässlich des Putsches von Augusto Pinochet in Chile geäusserten Satz, dass ein liberaler Diktator einer antiliberalen Demokratie vorzuziehen sei.
Es gibt von Hayek auch den schönen Satz, dass man in einer Demokratie die Köpfe zählt, statt sie einzuschlagen. Aber tatsächlich ermöglicht die Demokratie einer weithin ungebildeten Bevölkerung, exzessive Forderungen zu stellen und sich des Staates zu bemächtigen, um den Reichtum so umzuverteilen, dass es den Markt zerstören würde. Es geht den Neoliberalen also weniger darum, die Demokratie abzuschaffen, als ihr Schranken aufzuerlegen. Ihr Projekt kreiste um die Frage, wie sich die Demokratie zähmen lässt. Hier wird das Recht wichtig: Gerade für die österreichischen wie auch für die US-Neoliberalen ist die Unabhängigkeit der Justiz von demokratischem Druck entscheidend. Diese Vorstellung vom Richter als Hüter der Wirtschaftsordnung entwickelt sich dann zur Idee von den Zentralbanken als Garanten der monetären Verfassung. Viele supranationale Organisationen wie die WTO bezwecken genau das: Das sind Orte, in die die Entscheidungsgewalt weg von den Nationalstaaten verlagert wurde.

Die Krux liegt darin, gleichzeitig die demokratische Legitimation dieser Institutionen sicherzustellen. Das ist die Achillesferse der Neoliberalen: Sie glauben, sie könnten die Demokratie beibehalten und zugleich die demokratische Entscheidungsgewalt einschränken, indem sie neue Institutionen gründen. Dabei fragen sie aber nie, warum die Bevölkerung ein Interesse daran haben sollte, dass ihre Souveränität auf übernationale Organe übertragen wird.

Die Quittung kam dann etwa in den Protesten gegen das transatlantische Handelsabkommen TTIP, das Konzerninteressen gegen etwaige demokratische Entscheidungen absichern sollte?
Absolut. Ähnlich war es beim Nafta-Abkommen. Viele Leute waren entsetzt, als sie erfuhren, dass Konzerne ihre Regierungen dafür verklagen können sollten, wenn diese innerhalb ihrer Grenzen beschliessen, den Umweltschutz zu verbessern oder die Konzernsteuern zu erhöhen. Bei den Menschenrechten wird oft beklagt, dass sie wirkungslos seien, weil Mittel fehlten, um sie durchzusetzen; umso bemerkenswerter ist, dass die Rechte des Kapitals sehr real sind, weil es einen entwickelten institutionellen Apparat gibt, um sie zu sichern.

Entsprechend gross war die Empörung über das TTIP.
Ja, und ich denke, dass die Neoliberalen hier einen strategischen Fehler begangen haben, nicht nur einen moralischen oder politischen. Sie haben den Bogen überspannt: Es war irrig zu glauben, die Leute würden sich einfach damit abfinden, dass die Macht aus den Händen der Bevölkerung wegtransferiert wird. Insofern war der Backlash abzusehen, den wir mit Trump oder dem Brexit beobachten konnten. Die grossen Parteien waren sich alle einig, dass der Freihandel und die Globalisierung unabänderliche Entwicklungen seien – genauso wie der Wechsel der Jahreszeiten. Damit haben sie politisch ein grosses Feld eröffnet, in das die Kräfte von rechts nur noch spazieren mussten.

Zeigt sich hier zudem, wieso sich Liberalismus und Demokratie letztlich widersprechen? Das war ja eine These des deutschen Rechtstheoretikers Carl Schmitt, den Sie in Ihrem Buch auch erwähnen.
Eine Demokratie kann sicher illiberale Effekte zeitigen, weil der Volkswille nicht immer mit bürgerlichen Freiheitsrechten übereinstimmen muss. Deswegen verlangt der Liberalismus die Unterdrückung mancher demokratischer Forderung – ich denke, in diesem Sinne stimmt die These. Chantal Mouffe spricht hier vom «demokratischen Paradox». Das beschreibt gut das Spannungsverhältnis, mit dem sich die Neoliberalen konfrontiert sehen.

Inzwischen ist vom TTIP nicht mehr die Rede, mit Donald Trump regiert ein US-Präsident, der munter Strafzölle androht. Wie sehen heute die Diskussionen unter Neoliberalen aus?
Im Moment erleben wir das grösste Schisma im neoliberalen Lager seit Jahrzehnten – und das ist am deutlichsten im deutschsprachigen Raum zu erkennen. Dieser Bruch entzündet sich an Fragen der Migration und der Grenzen.

Also gibt es ein kosmopolitisches Lager und ein reaktionäres? Wo genau lässt sich das beobachten?
Ein erstes Indiz war die Gründung der AfD in Deutschland, die ja von ordoliberalen Ökonomen ins Leben gerufen wurde, von denen einige Mitglieder der Mont-Pèlerin-Gesellschaft waren. Diese Leute sind schon lange überzeugt, dass die globalistische Lösung falsch ist, dass man also die Entscheidungsgewalt nicht zur Europäischen Zentralbank verlagern sollte, weil die Nation immer noch der beste Manager kapitalistischer Angelegenheiten ist. Rasch schlossen sie Allianzen mit xenophoben Kräften. Um diese Bündnisse zu rechtfertigen, griffen sie auf das alte Argument einiger Neoliberaler – darunter Wilhelm Röpke – zurück, dass kulturell nicht alle Menschen gleichermassen für den Kapitalismus geeignet seien. Wenn es europäische Traditionen gibt, die in Afrika fehlen, dann lässt sich eine gegen Einwanderung gerichtete Politik ökonomisch rechtfertigen. Der Ort, wo sich diese Allianz formal bildete, war die Hayek-Gesellschaft in Deutschland, die übrigens neben der Kovorsitzenden der AfD-Bundestagsfraktion, Alice Weidel, auch viele Schweizer Mitglieder hat: Roger Köppel etwa.

Dazu passt, dass auch Thilo Sarrazin schon zu Gast bei der Hayek-Gesellschaft war?
Ja, er hat mehrmals dort Vorträge gehalten und ist mit dem Soziologen Erich Weede aufgetreten, der so etwas wie der Theoretiker dieses rechten ordoliberalen Flügels ist. Die beiden sprachen auf dem «Forum Freiheit» der Hayek-Gesellschaft in Berlin. Und es ist bemerkenswert, dass Sarrazin, einer der bekanntesten Gegner nichtweisser Immigration in Deutschland, dort im Namen der Freiheit sprach, da man sich unwillkürlich fragt: Um was für eine «Freiheit» geht es hier eigentlich? In der Hayek-Gesellschaft gab es aber auch Leute, die diese Allianz mit der Rechten nicht wollten: Die Wirtschaftsjournalistin Karen Horn, die auch für die NZZ schreibt, hat diese Absetzbewegung angeführt. Bis dahin aber trat die neoliberale Bewegung bemerkenswert geschlossen auf – was eine der Erklärungen für ihren grossen Einfluss ist.

Wenn man sich den globalen Trend anschaut, dann spielt dieser den Reaktionären wohl in die Karten?
In Sachen Populismus muss man differenzieren. Wenn man sich das Lager der «Brexiteers» anschaut, die AfD oder die FPÖ in Österreich, scheint mir recht klar, dass sie einen überspannten Neoliberalismus vertreten. Der Brexit soll ja zu einer deregulierten Ökonomie führen, und wenn man das Programm der AfD liest, dann taucht der Begriff «Wettbewerb» dutzendfach auf, «Solidarität» aber nie. Wenn Sie sich allerdings die Lega in Italien anschauen oder das Rassemblement National in Frankreich, wollen diese Parteien nicht einfach die Sozialausgaben runterfahren. Häufig ist es so, dass es innerhalb der Parteien beide Lager gibt. Man muss abwarten, wie das ausgeht. Aber wenn man die USA betrachtet, ist es durchaus möglich, dass wir es am Ende mit einer Art neu aufgelegtem Globalismus zu tun haben werden.

Wo sehen Sie die Anzeichen dafür?
Schauen Sie, was mit dem Nafta-Abkommen passiert ist: Dieses soll ja der «schlechteste Deal aller Zeit» gewesen sein – Trump gründete seinen Wahlkampf auf dem Versprechen, dass er die USA aus dem Abkommen zurückziehen würde. Dann, anderthalb Jahre später, gab es eine neue Vereinbarung, die dem Nafta-Abkommen sehr ähnlich ist: Man kann ja auch nicht einfach alle Versprechen seinen Partnern gegenüber brechen und dann erwarten, dass diese immer noch handeln wollen. Stattdessen muss man neue Kompromisse finden, und unter Umständen ist man am Ende dort, wo man gestartet ist. Trumps Angriffe auf die WTO sind sehr real – aber das heisst nicht, dass wir am Ende nicht womöglich eine Art WTO 2.0 haben werden. Der Kapitalismus ist nun einmal global organisiert und erfordert notwendig eine rechtliche Struktur.

Zurück nach Europa: In Ihrem Buch schildern Sie die frühen Kontroversen der Neoliberalen hinsichtlich der europäischen Einigung. Darin spiegelt sich doch der heutige linke Zwiespalt gegenüber der EU?
Im Kern geht es bei der Geschichtsschreibung darum, der Gegenwart den Anschein des Zwangsläufigen zu nehmen. Das lässt sich gut an der EU zeigen, die ja weithin als neoliberal gilt. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wurde erst in den späten Fünfzigern gegründet, wir haben es also mit einem überschaubaren Zeitraum zu tun. Und schon in diesen sechzig Jahren hat sich das, wofür Europa steht, vielfach geändert. Bereits die Gründung der EWG war ein Kompromiss, der eine protektionistische Politik für Landwirte vorsah, aber auch eine Intensivierung internationaler Handelsbeziehungen. In den Siebzigern erschien dann die europäische Einigung den Eurokommunisten und der Linken verheissungsvoll. In den Neunzigern dagegen gab es die Maastrichter Verträge, die die staatlichen Ausgaben limitieren sollten, aber gleichzeitig auch die Erweiterung der europäischen Sozialcharta. Die Rückschau auf solche Kompromisse belegt, dass der Inhalt der Institutionen nicht ein für alle Mal fixiert ist.

Gilt das auch für den IWF oder die Weltbank?
Ja. Die Behauptung, diese Institutionen könnten sich nie verändern, ist historisch unhaltbar. Daher geht auch die Idee eines linken Brexit in die Irre: Die Vorstellung, dass man, sobald man aus der EU ausgeschieden ist, endlich frei sei, ist falsch.

Können Sie nicht nachvollziehen, dass man es als absurd empfindet zu sagen: «Okay, wir haben zwar endlich die Mehrheit im Land, bleiben aber in der EU und beugen uns dem Austeritätskurs»? Das war doch 2015 das Problem für die griechische Syriza-Regierung.
Ich habe Freunde aus Griechenland, die sich in dieser Zeit aufseiten der Linken engagiert haben, beispielsweise der Politologe und Aktivist Pavlos Roufos, Autor des Buchs «A Happy Future Is a Thing of the Past». Wenn man ihn fragt, warum sie damals nicht raus aus der EU seien, antwortet er: «Was hätte das gebracht? Wir wären genauso beschränkt gewesen, wie wir es durch die Auflagen der Troika waren.» Dabei hat Roufos die EZB und die Europäische Kommission während seiner gesamten politischen Laufbahn bekämpft. Dennoch kommt er zum Schluss, dass es keine bessere Alternative zum institutionellen Rahmen gibt, den die EU bietet. Die Frage ist also, wie man mit sozialen Bewegungen Druck entwickelt, um diese Institutionen zu übernehmen. Die Neoliberalen sahen diese Schwierigkeit übrigens genau, Hayek befürwortete überstaatliche Föderationen, die Freihandelszonen sein sollten, die aber zugleich aus möglichst unterschiedlichen Bevölkerungen bestehen sollten: Das sollte ausschliessen, dass die Menschen Solidarität untereinander entwickeln.

Quinn Slobodian sieht die Herausforderung für die Linke darin, «inter­nationale Solidarität zu stiften: ein Projekt ins Leben zu rufen, das einen politischen Willen über Grenzen hinweg artikuliert.»

Wenn man an die Polemik gegen die «faulen Südeuropäer» denkt, scheint das auch zu klappen.
Und deswegen denke ich, die eigentliche Herausforderung für die Linke ist, internationale Solidarität zu stiften: ein Projekt ins Leben zu rufen, das einen politischen Willen über Grenzen hinweg artikuliert. Wir finden solche Einsichten in invertierter Form in den Schriften Neoliberaler. Hayek glaubte, dass es Solidarität nur bei Primitiven gibt: Sobald Gesellschaften komplexer werden, müssten deren Mitglieder weniger empathisch sein, weil andernfalls das internationale Arbeitssystem zusammenbrechen würde. Falls Hayek mit dieser Analyse recht hat, sollten wir anfangen, solidarischer zu sein, wenn wir die Dinge ändern wollen. Jedes Mal, wenn eine Bewegung entsteht, die sich auf den Ideen des Internationalismus und der sozialen Gerechtigkeit gründet, wird damit Hayek widerlegt. Das ist doch ein schöner Gedanke.

Globalisierung und Widerstand : Die «Schlacht von Seattle» – und wie es dazu kam

Vor fast exakt zwanzig Jahren erlebte die Welt die Geburt der Antiglobalisierungsbewegung: Am 30. November 1999 kamen Zehntausende anlässlich einer Konferenz der Welthandelsorganisation (WTO) nach Seattle, um gegen deren Politik und ihre Folgen zu protestieren. Wobei schon die Bezeichnung «Antiglobalisierungsbewegung» irreführend ist: Die Medien, so erinnert sich Quinn Slobodian, hätten damals ihr Bestes getan, um die DemonstrantInnen als NationalistInnen zu diskreditieren, die lieber von der Welt isoliert leben wollten: «Dabei waren sich die Leute, die dort protestierten, über die Probleme anderswo auf der Welt sehr wohl bewusst – das war gerade das, was sie antrieb.» Für den kanadischen Historiker ist der in Seattle artikulierte Wunsch nach einer anderen Globalisierung – einem Altermondialismus – immer noch «das Modell, an dem sich linke Politik orientieren sollte».

In seinem kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch «Globalisten. Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus» erzählt Slobodian gewissermassen die Vorgeschichte der Kämpfe um die Globalisierung seit den Neunzigern. Seine Schilderung konzentriert sich auf die wenig erforschte, aber einflussreiche «Genfer Schule», eine Gruppe neoliberaler Ökonomen wie Friedrich Hayek oder Wilhelm Röpke, die nach dem Ersten Weltkrieg Institutionen ersann, die den freien Welthandel absichern sollten. Bislang konzentrierte sich das Interesse vor allem auf US-Neoliberale wie die berüchtigten «Chicago Boys» um Milton Friedman, die auf die USA fokussiert waren und sich weniger für Internationales interessierten. Slobodian rückt diese Schieflage in der Debatte zurecht.

Der Historiker, der heute am Wellesley College im US-Bundesstaat Massachusetts lehrt, war 1999 Student an der Universität in Portland – nur drei Stunden Autofahrt von Seattle entfernt. An den Protesten nahm er aber nicht teil: Er sei damals ein «etwas nihilistischer Teenager» gewesen, der lieber in Punkbands spielte, als auf Demos zu gehen. Trotzdem sei Seattle für ihn eine Offenbarung gewesen, sagt der 41-Jährige: «Ich sah die Bilder im Fernsehen und dachte mir: Wow, dort verläuft wirklich gerade die Front einer welthistorischen Auseinandersetzung.»

Daniel Hackbarth

Quinn Slobodian: «Globalisten. Das Ende der Imperien und die Geburt des Neoliberalismus». Suhrkamp Verlag. Berlin 2019. 522 Seiten. 47 Franken.