Quinn Slobodian: «Überall diese Löcher in den Staaten»
Der Wirtschaftshistoriker Quinn Slobodian erklärt in seinem neuen Buch die Bedeutung der «Zone»: Er zählt mehr als 6000 Gebiete weltweit, die dem Steuerdumping dienen, die Arbeitsrechte schleifen und die Demokratie aushebeln.
WOZ: Quinn Slobodian, in Ihrem neuen Buch, «Kapitalismus ohne Demokratie», widmen Sie Liechtenstein ein eigenes Kapitel. Was macht den kleinen Schweizer Nachbarn mit seinen kaum 40 000 Einwohner:innen so interessant?
Quinn Slobodian: Liechtenstein ist so etwas wie das Pantheon unter den Orten, die rechte Libertäre gern auf der ganzen Welt etablieren würden. Bankgeheimnis, Steuervermeidung und wirtschaftliche Diskretion liegen als Grund für die Begeisterung auf der Hand – aber der libertäre Mythos Liechtenstein wurzelt tiefer: Einer der «grössten Tresore der Welt» hat als Artefakt inmitten eines Kontinents überlebt, auf dem republikanische Demokratien zum Standard geworden sind. In Liechtenstein ist der Reichtum noch immer grösstenteils in den Händen des Fürsten konzentriert. Das befruchtet romantische Erinnerungen an eine Zeit, in der Souveränität nicht auf modernen Konzepten wie dem Volkswillen beruhte. Im Fall Liechtensteins konnte sie gekauft und verkauft werden.
Eine Romantik des Geldes, wie sie von Marktradikalen kultiviert wird.
Ein Grossteil des libertären Charmes geht darauf zurück. Anfang des 18. Jahrhunderts kaufte eine österreichische Adelsfamilie zwei Ländereien der Dynastie Hohenems in bar. Das Gebiet wurde zu einem Fürstentum erklärt und erhielt den Namen der Familie: Liechtenstein war geboren. Das erste Familienoberhaupt verlegte seinen Wohnsitz erst 150 Jahre später ins Schloss Vaduz.
Der Ideenhistoriker
Der Kanadier Quinn Slobodian (45) ist Professor für Geschichte am Wellesley College im US-Bundesstaat Massachusetts. Zu seinen Forschungsgebieten zählen Zeitgeschichte, Globalisierung und Neoliberalismus. Für sein Buch «Globalisten» wurde Slobodian mit dem renommierten George Louis Beer Prize ausgezeichnet. Sein neues Buch, «Kapitalismus ohne Demokratie», ist bei Suhrkamp erschienen.

Die Fürstenfamilie brachte aus Österreich nicht nur die Adelstradition mit.
Der heutige Fürst Hans-Adam II. ist ein überzeugter Libertärer, inspiriert von den österreichischen Marktradikalen Ludwig von Mises und Friedrich Hayek. In den neunziger Jahren wurde auf seine Initiative hin eine Volksabstimmung durchgeführt, die seine Macht enorm erweiterte. Zugleich wurde aber auch in der Verfassung verankert, dass sich Gemeinden per Mehrheitsentscheid von der Nation abspalten und unabhängig werden können. Der Fürst hatte ursprünglich gar eine Klausel einführen wollen, die dies den einzelnen Bürger:innen erlaubt hätte – eine Idee, die direkt auf von Mises zurückgeht.
Zersplitterung und künstlich geschaffene Territorien spielen in Ihrem Buch eine wichtige Rolle.
Bei der Forschung hat mich die Kategorie der «Zonen» geleitet: Gebiete innerhalb von oder neben Staaten – meist etabliert, um ausländische Investor:innen anzuziehen. In der Regel sind in solchen Zonen die demokratischen Normen aufgeweicht, die Steuern tief, es gelten bloss wenige Wirtschaftsregeln und Arbeitsgesetze. Diese Steueroasen, Enklaven und Zollfreigebiete sind aber – wenn es keine Kleinstaaten sind – nicht gänzlich von den Nationalstaaten getrennt. Auch die Schweiz kennt solche Zonen. In Genf etwa wird ein grosser Freihafen betrieben, in dem Superreiche Kunstwerke und Sammlerstücke im Wert von Milliarden lagern, ohne dafür Steuern oder Zollgebühren zu bezahlen.
Wie passt diese Fragmentierung mit der Globalisierung der Wirtschaft zusammen?
Üblicherweise wird die Entwicklung von geografischen Einheiten nach 1989 als zunehmend grösser und integrierter beschrieben: Man denke an die Gründung der Europäischen Union oder den Abschluss des Nafta-Freihandelsabkommens zwischen Kanada, den USA und Mexiko. Sieht man sich aber die Herausbildung der Zonen an, erkennt man darin eine zunehmende Perforation der Nationalstaaten: Man sieht überall kleine Löcher in den Rechtsgebieten. In den frühen siebziger Jahren gab es weltweit weniger als 100 Sonderwirtschaftszonen, heute sind es fast 6000. Ich wollte mit meinem Fokus auf diese geografische Einheit ein neues Narrativ für die Zeit nach dem Ende des Kalten Kriegs entwickeln.
In Ihrem Buch beschreiben Sie, wie Milton Friedman im prosperierenden Hongkong zur Überzeugung gelangte, ökonomische Freiheit sei auch ohne freie Wahlen möglich. Wie konnte die Insel vor dem damals realsozialistischen China zum Paradies der Marktradikalen werden?
Grossbritannien hielt nach der kriegerischen Eroberung auch während der Zeit des Kommunismus an Hongkong fest. Die kleine felsige Insel wurde wiederum zu Chinas einzigem Zugang zur Weltwirtschaft. Das bevölkerungsreichste Land der Welt konnte von den dortigen Import-Export-Geschäften profitieren. Vor Ablauf des 99-jährigen Pachtvertrags mit Grossbritannien debattierte die Kommunistische Partei Chinas mit den Wirtschaftseliten Hongkongs über die Zukunft der Insel. Sie stellten fest, dass sie für das Gebiet dasselbe wollten: Bankgeheimnis, Freihandelspolitik und niedrige Steuern. Bei der Übergabe an China 1997 wurden diese Massnahmen Teil von Hongkongs Grundgesetz.
Patri Friedman, der Enkel von Milton Friedman, hat für seinen Blog Maos bekannten Slogan «Lasst hundert Blumen blühen» abgewandelt. Er fordert: «Lasst tausend Nationen blühen.» Meint er damit Hongkong?
Viele Ökonominnen und Politiker sahen Hongkong nicht als Unfall der Geschichte, sondern als Vorlage, die sich überall auf der Welt kopieren lässt. In meiner Erzählung geht es oft um diese merkwürdigen Momente. Kapitalist:innen verfolgen ihre Interessen, werden dabei aber von Intellektuellen und Thinktanks beobachtet. Diese wiederum vereinfachen die lokale Realität für ihre Zwecke – und schicken Slogans um die Welt, die dann an anderen Orten wieder angewendet werden können. Inspiriert von Hongkong schrieb etwa der konservative Politologe Alvin Rabushka das Buch «The Flat Tax», das zur Bibel der Steuerreformen in Osteuropa wurde. In den Neunzigern wurde dort die Pauschalsteuer innert weniger Jahre in 21 Ländern eingeführt. Das Modell, das Reiche begünstigt, wurde international nach und nach zur Normalität.
Ein besonders radikales Projekt, das Patri Friedman ebenfalls vor Augen gehabt haben dürfte, wurde vor einigen Jahren in Honduras gegründet: die Privatstadt Próspera. Friedman war mit seinem Investitionsvehikel Pronomos Capital darin involviert.
In Próspera haben auch prominente Risikokapitalgeber aus dem Silicon Valley viel Geld investiert, unter ihnen Peter Thiel, der Techmilliardär und Trump-Supporter. Die Sonderentwicklungszone auf der Insel Roatán vor der Küste von Honduras versprach ihnen ein enormes Mass an Autonomie. So sollten in der Zone eigene Gesetze herrschen sowie Polizei und Gerichte privat organisiert sein. Es gab aber von Anfang an Widerstand der lokalen Bevölkerung. Ende letzten Jahres beschloss der Kongress in Honduras, das Gesetz ausser Kraft zu setzen, das die libertäre Zone anfänglich ermöglichte. Die Investor:innen aus dem Silicon Valley verklagten das Land daraufhin im Rahmen von Freihandels- und Investitionsabkommen auf fast elf Milliarden US-Dollar Schadensersatz.
Kurz darauf kritisierte auch das US-Aussenministerium den Entscheid des Parlaments als Verletzung internationalen Rechts.
Lokale, kleinräumige Projekte sind stets eng mit der obersten Etage der Weltwirtschaft verbunden. Das ist sehr aufschlussreich, wenn man die neoliberale Strategie verstehen will, die auf mehrere Ebenen abzielt: Marktradikale versuchen, Gesetze und Verträge zu etablieren, die demokratische Massnahmen gegen die Rationalität des Kapitals verbieten – zugleich soll bei zu viel Widerstand der Ausstieg von Reichen und ihrem Geld in ein konkurrierendes Gebiet ermöglicht werden.
Die Fragmentierung wurde auch in den internationalen Institutionen aktiv gefördert.
Für Organisationen wie die OECD war die Schaffung von Zonen für die Exportproduktion oder für Callcenter lange der Standardvorschlag für arme Länder. Diese sollten um ein bestimmtes Gebiet einen Stacheldrahtzaun errichten, die Arbeitsvorschriften aufweichen, und schon würde ein neues Shenzhen entstehen, jene erste Sonderwirtschaftszone in China, die zur Industrie- und Technologiemetropole herangewachsen ist. In den Neunzigern nahm man es einfach als naturgegeben hin, dass arme Länder um Billigstproduktion konkurrieren müssen und sich Geld ungehemmt die profitabelsten Investitionsstandorte suchen kann. Das wird mittlerweile auch in den grossen internationalen Organisationen hinterfragt.
Die OECD hat scheinbar ihre Strategie geändert; sie verfolgt heute die Einführung einer weltweiten Unternehmenssteuer. Auch im Internationalen Währungsfonds gibt es Debatten über die neoklassische Hegemonie.
Ja, die Einführung der OECD-Firmenmindeststeuer würde den internationalen Wettbewerb, das Hopping zwischen Steueroasen und das Verstecken von Profiten erschweren. Ins Bild passen sicher auch die Subventionen grüner Industrien und die CO₂-Steuer in der EU oder die Exportkontrollen der USA und deren Versuche, abgewanderte Industrien ins Land zurückzuholen.
Ist das Erstarken nationalistischer Kräfte ebenfalls eine Kritik an den Zonen?
Um 2016 wurde zwar eine Bewegung deutlich sichtbar, die oft als populistisch und antiglobalistisch bezeichnet wird: Dazu gehören etwa Viktor Orbáns Fidesz, die italienischen Fratelli d’Italia oder die britischen Brexit-Anhänger:innen. Aber diese politischen Kräfte gehen lediglich neue Wege der alten Politik. Orbán hat Sonderwirtschaftszonen begrüsst, die italienische Regierung solche im Süden etabliert. Und die britische Konservative Partei will seit dem Brexit unbedingt neue Freihäfen schaffen. Ihr Nationalismus dient der Fortsetzung der Zonenpolitik mit anderen Mitteln.
Die Zonenpolitik läuft also weiter.
Ja, die jüngste Sonderwirtschaftszone wurde erst im April in Saudi-Arabien eingeführt. Allerdings wird die Politik mittlerweile auch unter umgekehrten Vorzeichen betrieben. In den USA erhalten gewisse Gebiete Transferleistungen, um Zulieferwerke für Batterien oder Halbleiter zu errichten. Man wählt bestimmte Orte, die besonders behandelt und steuerlich begünstigt werden – aber statt eines «race to the bottom» versucht man dort, bessere Arbeitsbedingungen und Sozialstandards zu etablieren. Man kann beinahe von einem postneoliberalen Upgrade der Zone sprechen, um den globalen Ressourcenfluss zu ändern.
Wie kam es zu dieser Veränderung?
Die Antwort lautet: China. Die Politik der Zonen hat dem Land zu einem unglaublich raschen Aufstieg zur globalen Wirtschaftsmacht verholfen. China hat nach und nach kleine Bereiche seines Territoriums für ausländische Investitionen geöffnet, was einen ökonomischen Schock verhinderte. Dabei wurden Niedriglohnarbeiter:innen vom Land in die Stadt gelockt, wo sie keinen sozialen Schutz genossen. Sie arbeiteten dort für eine wild gewordene Bauindustrie oder in Ausbeutungsbetrieben für US-Warenhäuser. Den Erfolg dieses Modells kann man schon lange nicht mehr ignorieren, vor allem nicht in den USA. Hier ist ein Wirtschaftsnationalismus mittlerweile praktisch Konsens – unter Demokrat:innen sogar noch stärker als unter Republikaner:innen.