Uigurinnen in der Schweiz: Flucht aus dem Polizeistaat

Nr. 50 –

Die Unterdrückung der uigurischen Minderheit im Westen Chinas hat eine lange Tradition. Hebibula Halik, der kürzlich in der Schweiz Asyl erhalten hat, lebte bis 2016 dort und blickt zurück.

Vor drei Jahren ist Hebibula Halik aus Ostturkestan geflohen, seither hat er nichts mehr von seiner Schwester gehört.

Hebibula Halik ist 45 Jahre alt, vor einem Jahr flüchtete er in die Schweiz. Seine Geschichte ist eine von vielen. Sie bekäme wohl kaum Aufmerksamkeit, würden die «China Cables» nicht plötzlich ein Schlaglicht auf die Unterdrückung der UigurInnen durch die chinesische Zentralregierung werfen. Die geheimen chinesischen Dokumente belegen die systematische Internierung einer Million UigurInnen und anderer Minderheiten in der autonomen Region Xinjiang in eigens dafür eingerichteten Lagern. Halik lebte bis 2016 in Ostturkestan – so die uigurische Bezeichnung für Xinjiang. Er hat die Politik der Verfolgung, die Errichtung der Lager hautnah miterlebt.

Da ist etwa diese Erzählung seiner Grossmutter, die ihn nicht loslässt: «Chinesische Beamte drangen in ihr Haus ein und verbrannten ihre Bücher», erzählt Halik. Der Familienvater wirkt zehn Jahre älter, als er ist. Eine schwere Traurigkeit liegt in seinen Gliedern, und doch rekonstruiert er das Geschehene sehr gewissenhaft, präzise. Es ist ihm wichtig, seine Geschichte zu erzählen. Die Episode aus dem Leben der Grossmutter lehrte ihn schon als Kind, dass die uigurische Lebensweise etwas Verbotenes ist. Die Unterdrückung begann 1949 mit der Eingliederung Ostturkestans in die chinesische Volksrepublik. Seither forciert China die Ansiedlung von Han-ChinesInnen auf uigurischem Gebiet, um die Region auch kulturell «chinesisch» zu machen.

Verhaftet und gefoltert

Schon im Gymnasium gab der spätere Journalist Halik gemeinsam mit SchulfreundInnen eine oppositionelle Zeitung heraus. Sie beschäftigte sich mit dem chinesischen Ansinnen, die Identität, Geschichte und Kultur von Uigurinnen und Tibetern auszulöschen. «Deswegen wurde ich mit achtzehn zum ersten Mal festgenommen», erinnert er sich.

Aus Furcht vor einer weiteren Verhaftung zog Halik 1992 nach Ürümqi, der Hauptstadt Ostturkestans, und von dort aus weiter zu Verwandten in Tianjin ausserhalb des autonomen Gebiets. Auch dort stiess er auf Probleme: «Wegen meiner Herkunft durfte ich ausserhalb Ostturkestans nicht zur Schule gehen», erzählt Halik. Die folgenden Jahre bis zur Flucht pendelte er zwischen seinem Geburtsort Kucah und Ürümqi.

Mit der Unterstützung von zwei bekannten Journalisten und Intellektuellen Ostturkestans gelang es ihm trotzdem, Medienwissenschaften in Ürümqi zu studieren. Halik fand zum Journalismus: «Ich bereiste ganz Ostturkestan und berichtete über den zunehmenden Druck auf die uigurische Bevölkerung.» Wegen seiner regimekritischen Arbeit wurde er immer wieder verhaftet und gefoltert. Zuletzt wurde er 1997 freigelassen und unter Hausarrest gestellt, weil Ärzte feststellten, dass er sterben würde, müsste er noch einen Tag länger im Gefängnis bleiben. Es ging ihm dreckig: «Bei meiner Entlassung konnte ich kaum gehen, ich hustete Blut.» Ein Jahr darauf wurde sein bester Freund, ein Journalist, von chinesischen Beamten getötet. «Nun war ich moralisch allein in Ürümqi», kommentiert Halik.

Alltägliche Polizeirazzien

China warf ein ganz besonderes Auge auf Haliks Familie. Besuche zu Hause mussten der chinesischen Polizei gemeldet werden. Wer das nicht tat, wurde gebüsst: Die chinesischen BeamtInnen sahen alles. Vor dem digitalen Zeitalter passierte die Überwachung über Ferngläser und Kontrollen vor Ort. Etwa 2001 kamen dann die Überwachungskameras dazu. Vor der Privatsphäre wurde nicht haltgemacht: Infolge einer brutalen Polizeikontrolle im Zuhause von Haliks Eltern erlitt sein Vater 2005 einen Hirnschlag und war fortan gelähmt. «Meine Mutter verkraftete das nicht und starb eine Woche darauf an Kummer», so Halik. Der Vater lebte noch weitere fünf Monate im Bett, ehe er starb.

2009 kam es in Ürümqi zu heftigen Ausschreitungen. Heute rechtfertigt die chinesische Regierung die Lager und die Repression gegen die uigurische Bevölkerung unter anderem mit diesem Ereignis: Uigurische «Terroristen» hätten Anschläge verübt und ChinesInnen getötet. Haliks Version klingt anders: Die Proteste ausgelöst hätten Übergriffe von Chinesen auf uigurische Mädchen, die als Billigarbeitskräfte ins Landesinnere deportiert worden waren. «Ich stand in meinem Büro am Fenster und beobachtete, wie chinesische Beamte kleine Steine auf die Demonstrierenden warfen, um eine Eskalation zu provozieren.» Er sah, wie Beamte und chinesische Paramilitärs zahlreiche UigurInnen erschossen und später das Blut von den Strassen wuschen. Zahlreiche Kinder seien als Waisen zurückgeblieben.

«Obwohl ich ab 2009 ein Teegeschäft führte, das gut lief, und kaum mehr journalistisch tätig war, gehörten Polizeirazzien in meinem Laden zum Alltag», sagt er. Kontrollen auf der Strasse und konstante Überwachung waren längst uigurische Normalität geworden. 2009 bekam er erstmals Wind von den Internierungslagern, die allmählich in Xinjiang gebaut wurden. Ein paar Jahre später wurde sein Wohnquartier in Ürümqi eingegittert: «Die chinesischen Beamten wollten die maximale Kontrolle über die Bewohner.» Die Situation wurde immer schwieriger. 2016 verliess er schliesslich mit Ehefrau und Kindern das Land.

Seine Schwester ist geblieben. «Seit drei Jahren habe ich nichts mehr von ihr gehört. Ich weiss, dass sie verhaftet wurde, aber nicht, ob sie überhaupt noch lebt», sagt Hebibula Halik. Dieses Schicksal ist allen ExiluigurInnen gemeinsam: Seit mindestens einem Jahr ist jeglicher Kontakt zu den Familien in Ostturkestan gefährlich geworden. China überwacht seine Diasporagemeinschaften weltweit. Telefonate werden abgehört, auf verschiedenste Weise wird Druck auf die Zurückgebliebenen und Weggefahrenen ausgeübt.

Chinas Botschaft dementiert

In der Schweiz sei die Repression subtiler, so Endili Memetkerim vom Verein Ostturkestan Schweiz. «Wegen der wirtschaftlichen Interessen geht China hier nicht so drastisch vor wie andernorts», sagt er. Aber alle UigurInnen in der Schweiz seien sich der telefonischen Überwachung bewusst. «Es ist schon vorgekommen, dass das chinesische Konsulat aus Zürich Leute angerufen und sie über ihre Familien ausgefragt hat.»

Auf Anfrage der WOZ verneint die chinesische Botschaft jegliche Überwachung. Sie schreibt: «Schon seit langer Zeit wollen westliche Anti-China-Kräfte nicht wahrnehmen, dass in Xinjiang Stabilität, Harmonie und Entwicklung herrschen.» Und: «In China stellt Xinjiang das wichtigste Schlachtfeld für Terrorismusbekämpfung und Beseitigung des Extremismus dar. Denn zwischen 1990 und 2016 sind Tausende terroristische Gewaltanschläge verübt worden.» In den «Schulungs- und Ausbildungszentren» würden die Betroffenen dabei unterstützt und gefördert, dem Extremismus abzuschwören, heisst es weiter. Memetkerim sagt dazu: «Lügen sind das Einzige, was die chinesische Regierung zu bieten hat.»

Die uigurische Gemeinschaft in der Schweiz ist sehr klein: Mitsamt der Kinder sind es etwa 130 Menschen. Hebibula Halik und seine Familie sind 2018 in der Schweiz angekommen. Vor wenigen Monaten wurden sie als politische Flüchtlinge anerkannt.