Xinjiang: Was bekannt ist: Internierung und Zwangsarbeit
Die Unterwerfung und Assimilierung der UigurInnen und anderer muslimischer Gruppen in Xinjiang ist heute offensichtlich. Ihre Formen und ihr Ausmass sind bisher aber nicht vollständig erfasst.
Was die Welt über das Vorgehen der chinesischen Behörden in Xinjiang weiss, stammt aus Berichten von und Interviews mit Betroffenen und AugenzeugInnen, chinesischen Regierungspapieren aus dem Internet, Satellitenbilderauswertungen und Forschungsberichten. Es gibt viele Hinweise, Indizienketten und Zeugenaussagen, aber das genaue Ausmass und die konkreten Formen sind bisher nicht vollständig erfasst, weil die chinesische Regierung keine unabhängigen Untersuchungen vor Ort zulässt.
Die jüngste Eskalation in Xinjiang, einer autonomen Region im Nordwesten des Landes, in der über 23 Millionen Menschen leben, begann bereits im Sommer 2009: In Ürümqi, der Hauptstadt Xinjiangs, protestierten UigurInnen auf der Strasse gegen ihre Unterdrückung, und es kam auch zu Angriffen auf Han-ChinesInnen. Die chinesischen Behörden griffen in der Folge hart durch, sie weiteten polizeiliche Kontrollen aus und verhafteten mehrere Tausend UigurInnen. Diese Repression sowie Massnahmen wie die forcierte Ansiedlung von Han-ChinesInnen und die Beschlagnahmung von Land befeuerten den Unmut der UigurInnen. Viele wandten sich verstärkt ihrem muslimischen Glauben zu – was auch durch das Aufkommen smartphonebasierter Internetdienste begünstigt wurde: Der Zugang der UigurInnen zur gesamten islamischen Welt wurde erleichtert.
Drei Strategien
In den Jahren 2013 und 2014 töteten uigurische AngreiferInnen bei Anschlägen in Peking, Kunming und Ürümqi insgesamt Hunderte Han-ChinesInnen. Daraufhin rief 2014 die Regierung von Xi Jinping, der damals seit zwei Jahren Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) war, einen «Volkskrieg gegen den Terror» aus. Auch wenn es in den Folgejahren weitere Anschläge gab, existiert in Xinjiang bis heute keine grössere separatistische oder dschihadistische Organisation, die den chinesischen Staat ernsthaft herausfordern könnte. Dennoch weitete das KPCh-Regime seinen «Volkskrieg gegen den Terror» ab 2017 nochmals drastisch aus.
Es kombinierte drei Strategien. Erstens bediente sich das Regime der Strategie des US-amerikanischen Militärs bei der Antiterrorkriegsführung im Irak. Diese setzt auf die Erfassung, präventive Überwachung und Internierung potenzieller Gefährder, deren soziale Netze zerstört werden sollen. In der restlichen Bevölkerung sollen ideologische Programme dabei helfen, die «Herzen und Köpfe» der Menschen zu gewinnen.
Zweitens übernahm es Praktiken staatlicher «Entradikalisierungsprogramme» in muslimischen Communitys, wie sie etwa in Grossbritannien angewandt werden. Und drittens griff das Regime auf Methoden der chinesischen Volksrepublik während der sozialistischen Periode vor 1976 zurück, namentlich auf Bestrafungs- und Umerziehungskampagnen, die unter anderem auf eine «Reform des Denkens» oppositioneller oder kriminalisierter Gruppen abzielten.
Big Data und Internierung
Seit Beginn richteten sich die repressiven Massnahmen nicht nur gegen gewalttätige Gruppen, sondern nahmen fast die gesamte muslimische Bevölkerung Xinjiangs ins Fadenkreuz. Uigurische Stadtteile wurden eingezäunt oder städtebaulich «erneuert», die Sicherheitskräfte deutlich aufgestockt, es entstanden neue Polizeistationen, vielerorts wurden regelmässige Strassenkontrollen eingeführt. Die Arbeitsmigration von UigurInnen in die Städte wurde durch Vorschriften und Schikanen deutlich eingeschränkt, und eine grosse Zahl an uigurischen Moscheen, Friedhöfen und Pilgerstätten wurde zerstört.
Im Lauf der letzten Jahre wurden gemäss einer Studie von Human Rights Watch (HRW) vom Dezember 2020 NutzerInnen- und biometrische Daten fast der gesamten muslimischen Bevölkerung in Big-Data-Programmen erfasst. Mithilfe eines Massenüberwachungstools werden die Menschen demnach automatisch auf Anzeichen «extremistischen» Verhaltens überprüft. Dazu gehören bereits die Ausübung muslimischer Rituale, das Tragen religiöser Kleidung, Reisen in Länder wie die Türkei oder Saudi-Arabien und sogar die Benutzung eines VPN, also die Verschlüsselung des Internetzugangs. Selbst Arbeitslosigkeit, Familienangehörige im Ausland oder der Besitz eines Passes können bereits verdächtig machen.
Ergänzt wird die digitale Überwachung durch behördliche «Arbeitsteams», die Familien in uigurischen Stadtteilen und Dörfern auf ein verdächtiges Verhalten hin kontrollierten. Das geht aus den «China Cables» hervor, die das International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) im November 2019 veröffentlicht hat. Über eine Million staatsbedienstete Han-ChinesInnen haben demnach uigurische Haushalte «adoptiert»: Sie besuchen die Familien für mehrere Tage, übernachten bei ihnen, kontrollieren Umgangsformen und Tagesabläufe, um Verdachtsfälle an die Sicherheitsbehörden zu melden.
Die umfassende Überwachung ist äusserst wirkmächtig, weil den Betroffenen ständig die Verhaftung und eine monate- oder jahrelange Internierung in Lagern droht. Ein Bericht des australischen, mit staatlichen Geldern geförderten Thinktanks ASPI zu Xinjiang führt 380 Umerziehungs- und Internierungslager unterschiedlicher Sicherheitsstufen auf, die seit 2017 errichtet oder ausgebaut wurden. Unterschiedlichen Schätzungen zufolge sollen dort seither über eine Million Menschen interniert worden sein, vor allem UigurInnen, aber auch KasachInnen und Angehörige kleinerer muslimischer «Minderheiten», insbesondere Männer im Alter von 15 bis 55 Jahren.
In den entsprechenden Einrichtungen müssen die InsassInnen gemäss «China Cables» ihrer Religion abschwören und eine politische Umerziehung durchlaufen, die ihnen die Unterwerfung unter die chinesische Staatsführung und die «Han-Kultur» nahelegt. Ehemals Internierte berichteten zudem von systematischer Folter, von Misshandlungen und sexualisierter Gewalt.
Nike, Adidas, Apple
Lange leugnete die chinesische Regierung die Existenz der Internierungslager. Später bezeichnete sie die Einrichtungen als «Berufsbildungszentren», in denen die UigurInnen qualifiziert würden. Dem stehen Berichte gegenüber, die aufzeigen, dass Hunderttausende nach ihrer Umerziehung zur unqualifizierten Arbeit in lagernahen Firmen, in Landwirtschaftsbetrieben oder in Fabriken in anderen Teilen Chinas gezwungen wurden.
In ihrem Bericht «Uyghurs for Sale» schilderte die Journalistin Vicky Xiuzhong Xu letztes Jahr, wie UigurInnen, die vorher in «Berufsbildungszentren» in Xinjiang interniert waren, danach für chinesische Fabriken in anderen Provinzen arbeiten mussten. Einige dieser Fabriken sind Teil globaler Lieferketten, auf die etwa die Kleiderfirmen Nike und Adidas oder der Techkonzern Apple zugreifen.
Die Massnahmen der chinesischen Zentralregierung in Xinjiang haben zum Ziel, eine Unterwerfung und Assimilierung der UigurInnen und anderer muslimischer Minderheiten zu erreichen. Dazu gehört auch, dass Kinder von Müttern, die in Fabriken arbeiten müssen, in angeschlossenen Kindertagesstätten «chinesisch» geprägt werden sollen. Sind Elternteile interniert, werden ihre Kinder mitunter vom familiären Umfeld getrennt und in Heimen «chinesisch» erzogen. Uigurische Frauen, deren Ehemann interniert wurde, sollen zudem im Rahmen staatlicher Programme zur Scheidung und zur Heirat mit Han-Chinesen gedrängt worden sein.
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