Dreissig Jahre nach der Wende: Osteuropa hat den Wachstumsblues

Nr. 51 –

Hinter der feierlichen Fassade, die in diesen Wochen zum Wendejubiläum aufgezogen wird, ist die Stimmung im einstigen Ostblock derzeit eher mürrisch. In vielen Ländern ist eine gewisse Enttäuschung spürbar. Waren die Hoffnungen von 1989 einfach unrealistisch?

Wie jedes Jahr steht in Bukarest diesen Sonntag ein gross angelegtes Staatsspektakel auf dem Plan. Gäste aus ganz Europa kommen in die rumänische Hauptstadt, ZeitzeugInnen werden Reden halten, und der Patriarch der orthodoxen Kirche wird in seiner traditionellen Andacht an die mehr als tausend Männer und Frauen erinnern, die während des Aufstands ihr Leben verloren. Es ist der 22. Dezember: der Tag, an dem 1989 Diktator Nicolae Ceausescu trotz gewaltiger Repression zur Flucht gezwungen wurde. Eigentlich sollte das runde Jubiläum für die RumänInnen Anlass sein, ihren Stolz auf die hart erkämpfte Demokratie zu zeigen und jenen fast verrückten Mut zu feiern, der Tyrannen, Mauern und Unterdrückung zu überwinden vermag.

Stabilität und Wohlstand

Stattdessen hält sich der Enthusiasmus in Grenzen. Abseits der offiziellen Veranstaltungen deutet kaum etwas auf feierliche Stimmung hin. Und das ist nicht nur in Bukarest so: In Prag begingen Zehntausende Menschen den tschechischen Jahrestag der Samtenen Revolution am 17. November, indem sie einen riesigen Protest gegen Ministerpräsident Andrej Babis veranstalteten, dem sie Korruption vorwerfen. In Budapest überschatteten Kontroversen um den rechtsnationalen ungarischen Machthaber Viktor Orban nicht zum ersten Mal die Auseinandersetzung mit der einstigen Wende. Und auch in Bulgariens Hauptstadt Sofia, wo diese am 10. Dezember gefeiert werden sollte, zeigt man sich von den Ergebnissen der letzten dreissig Jahre oft enttäuscht.

Dabei haben die Länder innerhalb von nur einer Generation einen grossen Schritt gemacht. Sie profitieren von der Grenzöffnung, von Investitionen und Strukturfonds, die mit der Mitgliedschaft im Klub der Reichen möglich wurden. Die Mangelwirtschaft, die etwa in Polen oder Rumänien eine der Ursachen für die Aufstände von 1989 war, ist heute bloss noch eine vage Erinnerung. In Tschechien liegt die Kaufkraft der Bevölkerung bei rund achtzig Prozent des EU-Durchschnitts. Die Wachstumsraten der letzten Dekaden waren so hoch, dass sich das Bruttoinlandsprodukt selbst der ärmsten Staaten der Region verfünffachte. Fast überall herrscht praktisch Vollbeschäftigung, oft sogar akuter Mangel an Arbeitskräften, was – zusammen mit der Auswanderung nach Westeuropa – den Druck auf die Unternehmen erhöht, bessere Gehälter zu zahlen.

Aus politischer Sicht bietet sich ein weniger optimistisches Bild: Rechtspopulismus, Rassismus und Korruption erwiesen sich in den letzten Jahren nicht als vorübergehende Ärgernisse, sondern vielmehr als Dauerprobleme, mit denen aller Wahrscheinlichkeit nach noch lange zu kämpfen sein wird. Und dennoch erlaubt sich nicht einmal Viktor Orban, der selbstinszenierte Vorkämpfer gegen den klassischen Liberalismus, den Grundkonsens von 1989 – etwa die BürgerInnenrechte oder die Kernregeln der Demokratie – offiziell infrage zu stellen. Anders als in Russland wäre es in Ungarn zumindest derzeit unvorstellbar, dass Oppositionelle im Gefängnis landen. Ob das künftig so bleibt, ist freilich unklar; wenn die drei Dekaden seit der Wende etwas besonders deutlich gezeigt haben, dann wohl, dass Francis Fukuyamas «Ende der Geschichte» in immer weitere Ferne rückt.

Zumindest im Moment noch kann eine ernst zu nehmende Bilanz zu den osteuropäischen EU-Staaten nicht grundsätzlich negativ ausfallen. Umfragen, die anlässlich des Jubiläums gemacht wurden, bestätigen auch, dass sich die überwiegende Mehrheit der EU-OsteuropäerInnen mit den politischen Grundlinien seit der Wende einverstanden zeigt. Woher kommen also diese diffuse Enttäuschung und die schlechte Laune, die fast stereotypisch geworden sind für diesen Teil der Welt? Denn letztlich, so könnte man argumentieren, lassen sich die drei letzten Jahrzehnte mit den ersten dreissig Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Westeuropa vergleichen: erstaunliches Wachstum, steigender Wohlstand für viele, und an den meisten Orten eine relativ stabile, wenn auch nicht makellose Demokratie.

Neue Vorzeichen

Dass man sich mehr gewünscht hätte, etwa eine leichtere, schnellere und sozial gerechtere Transformation, liegt auf der Hand. Aber waren solche Wünsche, und damit auch die Hoffnungen von 1989, überhaupt realistisch?

Eher nein: Als der mittlerweile verstorbene rumänische Politkommentator Silviu Brucan Anfang der neunziger Jahre prophezeite, Rumänien werde mindestens zwanzig Jahre brauchen, um das Wirtschafts- und Demokratieniveau der westeuropäischen Länder zu erreichen, löste seine Behauptung einen Riesenskandal aus. Heute lacht man in Rumänien oft über die damalige Naivität und gibt zu, dass Brucans Prognose überoptimistisch war.

Zudem lässt sich argumentieren, dass die Zeit zwischen 1945 und 1975 viel günstiger für Westeuropa war, als es die letzten drei Dekaden für den Osten des Kontinents waren. Zunächst weil es damals keine Weltwirtschaftskrise mit solch verheerenden Auswirkungen gab, wie es nach 2008 der Fall war. Wichtiger noch: Der vorherrschende Konsens der Nachkriegszeit hatte ein Mass an wirtschaftlicher Umverteilung und sozialen Rechten erlaubt, von denen fast alle WesteuropäerInnen profitieren konnten. Den Ungarinnen, Polen oder Rumäninnen blieb dies unter den mittlerweile vorherrschenden neoliberalen Bedingungen hingegen verwehrt. Das erklärt zumindest teilweise, warum die Armutsbekämpfung in Osteuropa trotz vergleichbarem Wachstum bei weitem nicht so erfolgreich war, wie es etwa in Deutschland oder sogar in Italien nach dem Krieg möglich war. Und es erklärt auch, warum es 2019 noch immer viele RumänInnen gibt, die auswandern, während dies um 1975 die meisten ItalienerInnen als keine besonders sinnvolle Option erachteten.

Prekärer Fortschritt

Hinzu kommt, dass die Welt – und insbesondere das heutige Europa – mittlerweile viel enger vernetzt ist, was in Osteuropa den teils frustrierenden Vergleich mit dem Westen zur alltäglichen Erfahrung macht. Diverse weitere, globale Faktoren – allen voran die grossen Krisen der Gegenwart, etwa das Klima und die rasante Transformation der Arbeitswelt – tragen zu einer allgemeinen Unsicherheit bei. Viele OsteuropäerInnen nehmen diese als zusätzliches historisches Unglück wahr. Und die sehr starke wirtschaftliche und politische Abhängigkeit von den Machtzentren auf der anderen Seite des Kontinents, die ihrerseits mit zahlreichen Problemen konfrontiert sind, verstärkt das Gefühl, dass der bislang erreichte Fortschritt ein prekärer oder unsicherer ist.

So wird von Warschau über Prag und Budapest bis Bukarest weiterhin vieles davon abhängen, ob und welche gesamteuropäischen Antworten auf die Herausforderungen der nahen Zukunft gefunden werden. Konfrontative Alleingänge wie jene Ungarns und Polens basierten bisher sehr stark auf EU-Geldern, und es bleibt fraglich, ob sie ohne den Zugang zu Strukturfonds und Investitionen überhaupt möglich wären. Sollte sich aber – etwa mit der nächsten Wirtschaftskrise oder durch einen erheblichen Anstieg der Arbeitslosigkeit aufgrund fortschreitender Digitalisierung – herausstellen, dass die Angleichung der Lebensverhältnisse gar nicht mehr in Sichtweite liegt, so dürften viele OsteuropäerInnen vermehrt den naheliegenden Schluss ziehen, dass hier kein ehrliches Spiel gespielt wird.