Klimaproteste: Der Tennisspieler, der Biophysiker und der Prozess
In Renens stehen zurzeit zwölf KlimaaktivistInnen vor Gericht, weil sie in einer Filiale der Credit Suisse Tennis spielten. Der Prozess ist wegweisend für die Frage der Legitimität von Protestformen.
An zwei Fingern trägt Jacques Dubochet Pflaster. Auf beiden haben sich kleine Blutflecken gebildet. Man traut sich nicht, nach der Ursache zu fragen, während Dubochet mit beiden Händen Nachdruck in die Luft gestikuliert, die Handflächen nach innen, die Finger gespreizt. «Wir müssen den Jugendlichen zuhören», sagt er. «Wir müssen sie verstehen und sie beschützen.»
Gartenarbeit? Das würde zu Dubochet passen. Seit der 77-jährige Biophysiker vor zwei Jahren den Nobelpreis für Chemie gewonnen hat (für die Entdeckung der sogenannten Kryo-Elektronenmikroskopie – ein Verfahren zum Schockgefrieren von Wasser, das die mikroskopische Untersuchung der darin enthaltenen Moleküle möglich machte), haftet ihm das Image des bescheidenen und engagierten Tüftlers an. Als er 2017 nach Stockholm reiste, um die höchste wissenschaftliche Auszeichnung in Empfang zu nehmen, hielt er eine Rede über die Verantwortung der Wissenschaft und liess John Lennons «Imagine» abspielen. Inzwischen hat Dubochet seinen Auftritt perfektioniert. Er spricht in einem gutmütigen Singsang, die Silben lang gezogen. «Oh là là.» Schnauft, schmunzelt. Wird an den richtigen Stellen laut.
«Coming-out» als Aktivist
In Renens bei Lausanne stehen diese Woche zwölf junge KlimaaktivistInnen vor Gericht. Ihr Vergehen: Sie besetzten im November 2018 eine Filiale der Credit Suisse im Lausanner Stadtzentrum, ausgerüstet mit Roger-Federer-Masken. Die AktivistInnen packten Tennisschläger und Bälle aus und spielten. Mit der Aktion wollten sie darauf hinweisen, dass die Bank mit Federers properem Image wirbt und gleichzeitig Milliarden in umweltschädliche Unternehmen investiert. Zum Prozess kommt es, weil sich die AktivistInnen gegen ihre Strafen wegen Hausfriedensbruch und Durchführung einer unbewilligten Kundgebung wehren.
Jacques Dubochet fungiert in diesem Prozess als Zeuge. Man könnte auch sagen: als Gewissen. Den vielen JournalistInnen, die ihn in den Tagen vor dem Prozess im Dachstock seines hölzernen Einfamilienhäuschens in Morges besuchen, erzählt er die Geschichte seines «Coming-outs» als Klimaaktivist. «Ich war Anfang letzten Jahres beim zweiten Klimamarsch in Lausanne dabei.» Ganz hinten sei er mitgelaufen. «Plötzlich kam ein junger Typ, packte mich am Arm, zog mich nach vorne und bat mich, eine Rede zu halten. Seither kennen sie mich.» Dubochet ist nicht erst seit seinem Nobelpreisgewinn politisch aktiv. Er sitzt seit längerer Zeit für die SP im Gemeinderat von Morges, gab jungen Geflüchteten Nachhilfeunterricht. Seit 2014 ist Dubochet Mitglied der «Klima-Grosseltern». Politisiert hatte ihn einst die Anti-AKW-Bewegung. «Kaiseraugst», sagt er. Doch habe die Politik nie mehr als zwanzig, dreissig Prozent seines Lebens ausgemacht, «in der Hauptsache war ich immer Wissenschaftler». Mit dem Nobelpreis kam das Verantwortungsgefühl. «Die Leute hören einem plötzlich zu», sagt Dubochet, «also muss man auch etwas sagen.»
Das Gewicht des Nobelpreises. Dubochet sagt: «Man hat ein falsches Bild von Nobelpreisträgern. Plötzlich bist du ein ‹citoyen Nobel› – jemand, dem man zutraut, alles zu wissen. Dabei kenne ich mich nur beim Wasser aus. Doch sie haben mich beim Prozess als einzigen Zeugen zugelassen, obwohl es eine ganze Reihe von Experten gibt, die aussagen wollen.»
Vorbild Frankreich
Zum Auftakt des Prozesses gegen die Jugendlichen ruft das Gericht jeden Angeklagten einzeln auf. Begleitet von ihren VerteidigerInnen schreiten sie in den Gerichtssaal. Es ist ein beeindruckender Aufmarsch. Die wallenden schwarzen Roben der AnwältInnen, die geschmeidigen Bewegungen, ihre kultivierte Aura. Die dreizehn StrafverteidigerInnen – allesamt berühmte Persönlichkeiten – arbeiten unentgeltlich. Im Gerichtssaal besetzen sie die gesamte zweitvorderste Reihe und verleihen dem Prozess, dessen Urteil am nächsten Montag erwartet wird, Ausstrahlung. Ihre Präsenz macht deutlich, dass es hier nicht einfach um eine gewöhnliche Verhandlung wegen Hausfriedensbruch geht, um die Frage der Bussen im Umfang von insgesamt 22 000 Franken. Sondern darum, wie dieses Land auf den Protest der Jugend antwortet, der die Trägheit und Selbstzufriedenheit des bestehenden Systems herausfordert.
Draussen vor dem Gerichtsgebäude haben sich rund fünfzig KlimaaktivistInnen mit Protestschildern aufgebaut. In der Mittagspause wird einer von ihnen diesen einen Satz in die Fernsehkameras sagen: «Das System wird sich ohnehin ändern müssen – wir sind bloss da, um zu schauen, dass das möglichst schnell passiert.»
Drinnen lässt der vorsitzende Richter die Augen immer wieder wohlwollend auf den Angeklagten ruhen. Den Antrag der AnwältInnen, alle anwesenden ExpertInnen anzuhören, lehnt er mit der Begründung ab, er zweifle nicht am Klimawandel. Lediglich der Klimatologin Sonia Seneviratne von der ETH Zürich hat das Gericht neben Dubochet kurz vor Prozessbeginn Redezeit anberaumt.
Dann folgt der Auftritt von Jacques Dubochet, der an einem kleinen Tischchen Platz genommen hat. «Sie haben Greta Thunberg kennengelernt?», fragt ihn der Richter. «Hat sie jemals gegen Gesetze verstossen?» – «Nicht dass ich wüsste.» – «Monsieur Dubochet, was halten Sie als gewählter Gemeinderat von dieser Art des zivilen Ungehorsams? Halten Sie ihn für nötig?» Er möge diese Distinktion nicht, antwortet Dubochet, diese Unterscheidung zwischen gerechtfertigtem und ungerechtfertigtem Protest. Diese Jugendlichen sähen sich einer gewalttätigen Welt gegenüber, sie litten unter prätraumatischem Stress. «Man muss die Sache doch ins Verhältnis setzen. Sie haben Tennis gespielt, das war eine humorvolle Aktion, die wir beklatschen und unterstützen sollten.»
In Lyon hat kürzlich ein französisches Gericht in einem ähnlichen Prozess sechs KlimaaktivistInnen freigesprochen, die nach der Entwendung eines Macron-Porträts wegen Diebstahl angeklagt worden waren. Der Richter folgte der Argumentation der AnwältInnen, dass solche Aktionen angesichts des Klimanotstands legitim seien. Es handle sich hier um den «Tatbestand der Notwendigkeit», führte der Richter in seinem Urteil aus. Die BürgerInnen seien zu kritischer Wachsamkeit verpflichtet. Die VerteidigerInnen in Renens verfolgen die gleiche Argumentation. In der Mittagspause sagt Anwältin Irène Wettstein: «Wir wollen die Anerkennung des Gerichts, dass die Aktion nötig war.» Doch traue sie dem Richter diesen Mut nicht so recht zu. «Es ist der erste Prozess dieser Art in der Schweiz, er müsste sich zu einem Grundsatzentscheid durchringen.»
Durchringen kann sich der Richter am Dienstag immerhin dazu, auf den Nachmittag als dritten Zeugen einen Experten für den Finanzplatz zuzulassen.
Werbebotschafter Federer
Der verstorbene US-amerikanische Autor David Foster Wallace schrieb 2006 in seinem brillanten Essay über Roger Federer («Federer aus Fleisch und nicht»): «… sein Gleichmut alter Schule, seine psychische Zähigkeit, sein Sportsgeist, seine augenfällige ethische Integrität und Besonnenheit, sein karitatives Engagement – das alles ist nur eine Google-Suche weit entfernt. Tun Sie sich keinen Zwang an.» Ein kürzlich erschienenes Interview in der «SonntagsZeitung» mit Roger Federer fand in Dubai statt, wo dieser ein Luxusapartment in einem Wolkenkratzer besitzt. Als er im Herbst auf seiner Schaukampftour durch Südamerika einen Auftritt in Kolumbien wegen der dort eskalierenden Proteste kurzfristig absagte, weinte er – um seinen verpassten Schaukampf.
Wenn Jacques Dubochet für den engagierten Bürger steht, repräsentiert Roger Federer jene Hochglanzschweiz, an der alles abperlt. Am Prozess in Renens sind die Credit Suisse (CS) und ihr Werbebotschafter die grossen Abwesenden. Die Bank lässt in einer am Dienstag der Nachrichtenagentur Keystone-SDA zugestellten Stellungnahme verlauten: Die Bekämpfung des Klimawandels sei wichtig. Die CS wolle ihre Kreditportfolios an den Pariser Klimavereinbarungen ausrichten und werde nicht mehr in neue Kohlekraftwerke investieren. Die Credit Suisse respektiere das Recht auf freie Meinungsäusserung als zentrales demokratisches Grundrecht, dennoch toleriere sie keine unrechtmässigen Angriffe auf ihre Geschäftsstellen, unabhängig von den Tätern und deren Motiven.
Roger Federers Management – die KlimaaktivistInnen fordern den Tennisspieler auf, seinen Sponsoringvertrag mit der CS aufzulösen – schweigt auf eine entsprechende WOZ-Anfrage. Auch die Roger Federer Foundation, die Bildungsprojekte im südlichen Afrika unterstützt, will sich nicht zum Prozess äussern: «Wir sind nur für die 1,3 Millionen Kinder verantwortlich, die wir unterstützen.»
Dubochet sagt in seinem kleinen Dachstockbüro: «Mit Tennis habe ich nichts zu tun. Man sagt, Roger Federer sei ein aussergewöhnliches Talent! Er sei grossartig! Also bravo? Nicht wirklich. Er ist kein schlechter Kerl, aber mehr nicht.»
Der Sponsorenkönig
Mit Einnahmen von über 93 Millionen US-Dollar war Roger Federer letztes Jahr gemäss dem US-Wirtschaftsmagazin «Forbes» der weltweit mit Abstand bestbezahlte Tennisprofi. Global nehmen überhaupt nur vier Athleten mehr Geld ein als Federer (die erste Frau der Liste, US-Tennisspielerin Serena Williams, steht auf Rang 63).
Ein Grossteil der Einnahmen – über 60 Millionen US-Dollar – stammen von Sponsoren. Neben der Credit Suisse sind das unter anderem der Privatjetanbieter Netjets, Mercedes-Benz sowie die japanische Kleiderfirma Uniqlo, die unter anderem von Public Eye wegen der Arbeitsbedingungen der NäherInnen kritisiert wird.