Urteil gegen KlimaaktivistInnen: Das Jahr des Ungehorsams
Zwölf KlimaaktivistInnen, die wegen Hausfriedensbruch und Widerhandlung gegen die Anordnungen der Polizei zu Bussen verurteilt worden waren, wurden nun freigesprochen. Dieser Entscheid ist einmalig und historisch.
2019 war das Jahr der Klimastreiks, der «Fridays for Future»-Bewegung, der Massenproteste. 2020 könnte das Jahr des zivilen Ungehorsams werden. #By2020WeRiseUp – 2020 beginnt der Aufstand: Die internationale Klimabewegung verhandelt nicht nur unter solchen Slogans schon lange darüber, was die richtige Protestform ist, wie weit der Widerstand gegen die untätige Politik gehen, welche Gestalt er annehmen soll.
Diesen Montag nun ist im Lausanner Vorort Renens ein erstaunliches, ja historisches Urteil gefällt worden: Einzelrichter Philippe Colelough sprach zwölf KlimaaktivistInnen, die wegen Hausfriedensbruch und Widerhandlung gegen die Anordnungen der Polizei zu Bussen verurteilt worden waren, in allen Punkten frei. Die AktivistInnen gehören der Lausanner Bewegung Action Climat an. Im November 2018 hatten sie eine Filiale der Credit Suisse im Lausanner Stadtzentrum besetzt und mit Roger-Federer-Masken eine Tennispartie simuliert. Die AktivistInnen protestierten so gegen die klimaschädliche Investitionspolitik der Grossbank, die ihre dreckigen Geschäfte hinter dem sauberen Image ihres Werbebotschafters verberge. Sie widersetzten sich den Anordnungen des CS-Filialleiters, sein Geschäft zu verlassen, und wurden schliesslich einzeln von der Polizei abgeführt.
Man muss an dieser Stelle kurz innehalten und sich das Urteil des Lausanner Richters auf der Zunge zergehen lassen. Colelough argumentierte in seinem Urteil mit einem «rechtfertigenden Notstand». Will heissen: Er erachtet den Hausfriedensbruch angesichts der Klimakatastrophe als legitim. Es habe keinen anderen Weg gegeben, um die Bank zu einer Reaktion zu bewegen und die notwendige Aufmerksamkeit von den Medien und der Öffentlichkeit zu erhalten. Das Vorgehen der Protestierenden sei «notwendig und angemessen» gewesen.
Es ist der erste Entscheid dieser Art in der Geschichte der Schweiz: Nie zuvor hat ein Gericht bei ähnlich gelagerten Fällen die Dringlichkeit des politischen Protests höher gewichtet als die Eigentumsrechte der «Geschädigten». Noch nie wurden Rechtsbrüche als nötige Protestform legitimiert. Das Urteil aus Renens rührt an ganz grundlegende demokratie- und rechtspolitische Fragen. Es kann als Statement verstanden werden, dass es ein moralisches Recht gibt, das über geltende Gesetze hinausreicht. Und es unterstreicht, dass eine funktionierende Demokratie auf Menschen angewiesen ist, die diese immer wieder herausfordern.
Der Richter hat wohl begriffen, dass Akte zivilen Ungehorsams in der Retrospektive oft anders wahrgenommen werden als im Moment des Geschehens. Ziviler Ungehorsam kann mit seiner konfrontativen Kraft entscheidende gesellschaftliche Umbrüche anstossen, er kann eine transformatorische Wirkung entfalten.
Die Waadtländer Staatsanwaltschaft hat am Dienstag angekündigt, sie werde das Urteil an das Waadtländer Berufungsgericht überweisen. Das Urteil sei eine «überraschende Antwort auf eine Grundsatzfrage, die der kantonalen Oberbehörde vorgelegt werden muss», schreibt die Staatsanwaltschaft. Gut möglich, dass am Ende das Bundesgericht entscheiden muss: Schliesslich stehen alleine im Kanton Waadt in den nächsten Monaten zahlreiche Klimaprozesse an: 120 Mitglieder der Bewegung Extinction Rebellion sind kürzlich für verschiedene Aktionen – etwa Strassenblockaden – per Strafbefehl verurteilt worden, die meisten haben ihn angefochten.
Klar ist: Die international gut vernetzte Klimabewegung bleibt auch dieses Jahr die grösste Herausforderung für das kapitalistische System. Am Dienstag streuten AktivistInnen in einer UBS-Filiale in Lausanne Kohle aus und forderten ein Ende von Investitionen in die fossile Industrie. Und auch im Vorfeld des Weltwirtschaftsforums (Wef) in Davos ist die Klimabewegung die treibende Kraft hinter einem Protest, der dieses Jahr so gross und international wird wie schon lange nicht mehr. Greta Thunberg, die während des Prozesses in Renens Roger Federer für seinen Werbedeal mit der CS kritisierte, wird an der dreitägigen «Winterwanderung für Klimagerechtigkeit» von Landquart nach Davos teilnehmen, die am kommenden Sonntag startet.