«Ihr peinlichster Lieblingsfilm?» Fünfzehn Fragen an Anita Hugi, die neue Direktorin der Solothurner Filmtage.

WOZ: Anita Hugi, was ist Ihre früheste Kindheitserinnerung, die mit Kino zu tun hat?
Anita Hugi: Das Kino Palace in Biel. Der Ort. Die Atmosphäre. Der aus meiner damaligen Kindersicht riesige Kinosaal. Die senffarbenen, samtenen Kinosessel. Das Kino gibt es heute nicht mehr, aber jedes Mal, wenn ich an dem Ort vorbeifahre, ist es nach wie vor da. In meiner inneren Welt.
Der erste Schweizer Film, an den Sie sich erinnern können?
Offen gestanden, an den allerersten Schweizer Film, den ich als solchen wahrgenommen hätte, kann ich mich nicht aktiv erinnern. Als sehr junger Mensch hat mich zweifelsohne «Signers Koffer» (1997) von Peter Liechti enorm beeindruckt oder, wie eine Freundin sagt, «positiv verunsichert». In Form und Inhalt. Im Kontext der «Afrikabilder», die wir endlich zu reflektieren beginnen, denke ich aktuell oft an einen anderen Film von Liechti: «Namibia Crossings» (2004), der das Scheitern eines interkulturellen Musikaustauschs eigentlich nicht zum Thema hatte, aber dies ehrlicherweise sichtbar macht. Der Film hat mich tagelang nicht losgelassen. Diese Bilder. Diese Stimmung. Diese Ehrlichkeit.
Was halten Sie für das ärgerlichste Vorurteil über Schweizer Filme?
Im Film geht es meines Erachtens darum, Vorurteile zu durchbrechen. In diesem Sinne möchte ich hier keine Stereotype reproduzieren, sondern gehe direkt über zur nächsten Frage!
Was war der beglückendste Moment während Ihrer ersten Monate als Direktorin der Solothurner Filmtage?
Die Filmvisionierungen im Kino im Uferbau. Das Eintauchen ins Dunkel. Die konzentrierte Stimmung im Saal während des wochenlangen gemeinsamen Schauens. Die Fülle und Vielfalt von filmischen Handschriften. Die Dichte an starken Filmen – in allen Genres und Längen. Die Gespräche in der Runde der Auswahlkommissionen.
Wann haben Sie Ihren Job zuletzt verflucht, und aus welchem Anlass?
Meine Arbeit sehe ich weniger als Beruf, vielmehr als Lebensform. Deshalb habe ich keinen Anlass, ihn zu verfluchen – denn ich liebe ihn!
Wovon träumen Sie?
Ich träume vom Blick aufs Wasser, auf die Aare oder den Bielersee. Wogendes Wasser bedeutet mir Weite und Bewegung, und im weiteren Sinne: freie Sicht aufs Mittelmeer! Ein Traum ist zudem gerade in Erfüllung gegangen: ein starkes Programm zu gestalten, das sowohl einen künstlerischen wie menschlichen Anspruch hat. Nun träume ich von elektrisierenden Solothurner Filmtagen.
Was macht Ihnen Angst?
Selbstgerechtigkeit.
Bei welchem Film wären Sie wahnsinnig gerne Assistentin auf dem Set gewesen? Warum?
Bei unzähligen! Spontan würde ich sagen: «Le vent nous emportera» (1999) von Abbas Kiarostami und bei allen anderen Filmen von ihm. Ich hätte gerne selbst gesehen, wie er Schauspieler, Schauspielerinnen und die Crew führt. Weiter «À bout de souffle» von Jean-Luc Godard. Aus den gleichen Gründen. Und mit Carole Roussopoulos und Delphine Seyrig bei jenen Dreharbeiten, die nun als Archivbilder in den neuen Dokumentarfilm «Insoumuses» eingegangen sind, der in Solothurn zu sehen sein wird. Fantastisch, wie darin etwa Jane Fonda im Gespräch mit den zwei «Emanzen» über die Rolle der Frau im Kino sinniert.
Gretchenfrage: Truffaut oder Godard?
Godard! Par ailleurs: Cherchons la femme!
Und noch eine Gretchenfrage: digital oder analog?
Beides.
Kinos sind ja auch Pilgerstätten. Wo steht das schönste, das Sie je besucht haben?
In Berlin: das Kino International. In Solothurn: das Capitol und das Palace, das jetzt in neuem Glanz erstrahlt. In Montréal: die Cinémathèque québécoise. Kinos sind für mich – wie Festivals – Begegnungsorte. Ein ganz besonderes Kino ist für mich auch das Riffraff in Zürich, das ich ab Ende der neunziger Jahre besuchte.
Welche drei Filme würden Sie für die einsame Insel einpacken?
Eine unmögliche Frage! Drei Titel, die in zehn Minuten schon wieder drei andere sein könnten – wir haben ja wirklich die Qual der Wahl. Um trotzdem einen Versuch zu wagen: «Das Fräulein» (2006) von Andrea Staka – und die ganze Onlinefilmedition der Solothurner Filmtage, wo seit Juni bereits 28 weitere Schlüsselwerke des Schweizer Films gleichzeitig in drei Sprachen verfügbar sind. Zweitens «Cameraperson» (2016) von Kirsten Johnson, weil der Film in Bildern fast alles sagt, was es zum Dokumentarfilmschaffen zu reflektieren gibt. Schliesslich alles von Godard und sein Zitat: «Jede Geschichte hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, aber nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.»
Ihr peinlichster Lieblingsfilm? Und warum ist er Ihnen peinlich?
Ein womöglich peinlicher Lieblingsfilm, der mich jedoch als Teenager politisch wie filmisch sehr geprägt hat, ist «Cry Freedom» (1987) über den Kampf gegen das Apartheidregime, mit Denzel Washington in der Hauptrolle. Der Film war für mich menschlich und beruflich sicherlich eine Weichenstellung.
Ein sträflich unterschätzter und/oder vergessener Film, für den Sie hier gerne ein bisschen missionieren würden?
«Les Indiens sont encore loin», der Debütfilm von Patricia Moraz aus dem Jahr 1977. Damit wurde die Westschweizer Regisseurin damals direkt nach Cannes und Locarno eingeladen. Der Film mit der jungen Isabelle Huppert und Christine Pascal in den weiblichen Hauptrollen ist Teil unseres historischen Programms.
Der wichtigste Rat, den Sie jungen Filmschaffenden mit auf den Weg geben würden?
Gefragt ist beim Filmemachen meines Erachtens beides: Eigensinn und die Fähigkeit, zuzuhören. Und als grundlegende Voraussetzung, die man sich vielleicht selbst verschaffen muss: die Möglichkeit, selber entscheiden zu können, was wie umgesetzt werden soll. Utopie? Ja. En avant!
Anita Hugi
Die 44-Jährige ist in Biel aufgewachsen. Nach dem Studium war sie seit 2005 als Redaktorin beim Schweizer Fernsehen für «Sternstunde Kunst» verantwortlich und produzierte dort etwa die Filmreihe «Cherchez la femme» mit Filmen über Sophie Taeuber-Arp, Meret Oppenheim und S. Corinna Bille. Zudem war sie drei Jahre lang Programmdirektorin des Festival International du Film sur l’Art im kanadischen Montréal. Mit ihrer eigenen Produktionsfirma war Hugi als Autorin und Produzentin etwa beim interaktiven Dok-Projekt «Dada-Data» (2016) beteiligt. Im Sommer 2019 hat sie bei den Solothurner Filmtagen die Nachfolge von Seraina Rohrer angetreten.