Die Hand der Regisseurin im Bild Heidi Specogna ist die unerschrockene Kosmopolitin des Schweizer Dokumentarfilms.

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«Meine Filme sollen ihren Anteil zur politischen Diskussion leisten»: Regisseurin Heidi Specogna. Foto: Anne Morgenstern

Ein flimmernder Fernseher zeigt zwei nackte Oberkörper. Ein Mann und eine Frau stehen sich gegenüber und streicheln sich behutsam. Eine weitere Hand tastet den Bildschirm ab, fährt darüber – sie wird Teil der Szene und bleibt doch aussen vor. Dann verschwindet die Hand, um plötzlich im Bildschirm selber wieder aufzutauchen. Sie legt sich auf die Hände der anderen und ertastet gemeinsam mit den ProtagonistInnen deren Oberkörper.

«Tasta-Tour» von 1982 ist Heidi Specognas erster Kurzfilm. Die Filmemacherin, die viel später mit Dokumentarfilmen wie «Das kurze Leben José Antonio Gutierrez» und «Cahier Africain» bekannt wurde, hat das siebenminütige Werk im Rahmen ihrer Ausbildung an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin realisiert. Und auch wenn sich dessen experimentelle Form von ihren heutigen Werken stark abhebt, so illustriert der Film doch schön einen Aspekt, der sich in ihrem gesamten Filmschaffen zeigt: Specogna bleibt nicht als Beobachterin aussen vor, sondern tritt ins Geschehen ein und entwickelt eine starke Nähe zu ihren ProtagonistInnen. Gemeinsam mit ihnen tastet sie sich ohne vorgefertigte Thesen an deren Geschichten heran.

Königshäuser und Jeans

Geboren 1959 in Biel, ist Heidi Specogna «in einer komplizierten Familie aufgewachsen», wie sie im Oktober 2019 in einem Interview mit dem «Bieler Tagblatt» sagte – «mit vielen Brüchen». Nach der achten Klasse brach sie die Schule ab und probierte verschiedene Jobs aus. Danach besuchte sie die Ringier-Journalistenschule in Zofingen und erhielt eine Stelle auf der Auslandredaktion der «Schweizer Illustrierten». Doch über Königshäuser zu berichten, wie das von ihr verlangt wurde, war nichts für sie: «Ich wollte schreibend das Leben erforschen», sagte sie vor drei Jahren in einem Gespräch mit der WOZ.

Das tat sie dann auch: Sie arbeitete als freie Journalistin im Zürcher Presseladen und schrieb Anfang der achtziger Jahre auch ab und zu für die WOZ. In diesen Texten zeigt sich dieselbe Dringlichkeit wie in ihren Filmen, und es ist stets klar, was Specogna will: Ungerechtigkeiten aufzeigen. In einem ihrer Texte zeichnet sie die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in der Jeansproduktion nach, in einem anderen schreibt sie über die Benachteiligung der zweiten Generation von MigrantInnen auf dem Schweizer Lehrstellenmarkt, in einem weiteren stellt sie die sozialtherapeutische Modellanstalt in Berlin-Tegel vor.

Berlin ist nach Zürich ihre nächste Station – und bleibt bis heute ihr Zuhause. «Ich bin an den strengen journalistischen Formatvorgaben gescheitert», sagte sie im WOZ-Gespräch. Sie habe damals immer mehr Lust verspürt, freier und mit Bildern zu arbeiten, und habe sich mehr Zeitgewünscht, um an einem Thema zu bleiben. So zog es sie zum Film: Sie bewarb sich an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin und wurde angenommen.

Satt und ängstlich

Mit dem Wegzug nach Berlin begann ihre filmische Auseinandersetzung mit der Schweiz. Im Film «Fährten», der 1985 mit dem Berner Filmpreis ausgezeichnet wurde, blickt sie in Schwarzweissbildern kritisch auf ein Land, in dem die Menschen satt und selbstzufrieden sind, aber auch ängstlich und missgünstig. «Fährten» könnte auch der Name ihrer weiteren Filme sein. In Specognas Filmen zeigt sich stets ihre hartnäckige Spurensuche – das, was sie findet, aber auch die Leerstellen, die bleiben.

Durch ihre Auseinandersetzung mit der Guerillakämpferin Tamara Bunke, die in Argentinien zur Welt kam, in der DDR aufwuchs und 1967 in Bolivien getötet wurde, gelangte Specogna nach Lateinamerika. Hier würde sie die nächsten fünfzehn Jahre filmisch tätig sein. Während der Dreharbeiten zu «Tania la Guerrillera» (1991) stiess sie auf die Tupamaros, eine Stadtguerillabewegung in Uruguay. Dass diese sich als einzige lateinamerikanische Befreiungsbewegung in den sechziger Jahren nicht Che Guevara anschliessen wollten, weckte Specognas Interesse: «Oft führen mich Fragen, die nach einem Film bleiben, zum nächsten Thema», sagt die Regisseurin.

Sie sei jene, die immer wieder zurückkomme, sagte einmal eine ihrer Protagonistinnen zu Specogna. Tatsächlich sind ihre Filme einerseits Langzeitstudien, andererseits kehrt sie oft Jahre später zurück, dreht nochmals mit denselben Leuten, angetrieben von neuen Fragen. So waren die Dreharbeiten zu «Tupamaros» (1996) der Anknüpfungspunkt für den Dokumentarfilm «Pepe Mujica» (2014), der rund zwanzig Jahre später entstand – der damalige Präsident von Uruguay war einer der Protagonisten von «Tupamaros» gewesen.

Zu grösserer Bekanntheit gelangte sie mit «Das kurze Leben des José Antonio Gutierrez» (2006), der mit dem Schweizer Filmpreis ausgezeichnet wurde und das Leben des ersten US-Soldaten nachzeichnet, der 2003 im Irakkrieg fiel. Zwei Fotos besass die Filmemacherin zu Beginn ihrer Recherche: Eines zeigt Gutierrez als Kind, das andere als Soldat in Uniform. «Die Geschichte dazwischen galt es zu recherchieren», erzählte sie damals. Und das tat sie mit beeindruckender Unerschrockenheit. Gutierrez wurde in Guatemala geboren, wuchs als Strassenkind auf und reiste illegal in die USA. Mit einem kleinen Team reiste Specogna dem Weg des jungen Mannes nach, einer der gefährlichsten Flüchtlingsrouten der Welt entlang, unter anderem auf dem Dach eines Güterzugs, quer durch Mexiko. Zwei Jahre arbeitete sie am Film, die Recherchen waren aufwendig, die Drehgenehmigungen schwierig zu organisieren. Doch ohne Genehmigung oder heimlich zu filmen, kommt für Specogna nicht infrage: «Ich lege sehr viel Wert darauf, meine Haltung zu zeigen und mein Anliegen zu formulieren. Und darauf, dass meine Protagonisten mir vertrauen können. Dazu gehört auch, dass ich sage, wann die Kamera läuft und wann nicht.»

Angst am Schneidetisch

Nach dem Film über Gutierrez kam der Bruch mit Lateinamerika: Sie sei nicht mehr unbefangen gewesen, sagt sie. Sie begann, auf dem afrikanischen Kontinent zu drehen, wo sie der hässlichsten Fratze des menschlichen Daseins ins Gesicht blickte. «Carte Blanche» (2011) zeigt die Recherche zum Verfahren gegen den Kriegsverbrecher Jean-Pierre Bemba in der Zentralafrikanischen Republik. Erschütternd sind die Erzählungen der Überlebenden von Massakern und Vergewaltigungen – Specogna schont ihr Publikum nicht. In «Cahier Africain» (2016) landet sie selber mitten in den Wirren des Bürgerkriegs in Zentralafrika und wird zur Zeugin neuer Kriegsverbrechen. Geblieben sei sie, weil sie ja einen Film nach Hause bringen wollte, aber auch, weil sie sich ihren Protagonistinnen gegenüber verpflichtet gefühlt habe, erzählte sie später. Angst habe sie erst zu Hause gehabt, als sie am Schneidetisch die Bilder des Wahnsinns gesehen habe, der um sie herum geschehen sei.

Ihre Filme hätten «eine Art Mission», sagte Specogna vor über zwölf Jahren im Gespräch mit dem «Bund». «Sie sollen ihren Anteil zur politischen Diskussion leisten.» Das gelingt ihr bis heute immer wieder, beleuchtet sie in ihren Filmen anhand von persönlichen Schicksalen doch stets wichtige politische Themen. «Ich warte auf die Gerechtigkeit», sagt ein Mädchen in «Carte Blanche», das von Bembas Schergen vergewaltigt wurde. «Wenn die Justiz ihre Arbeit macht, werde ich diese Erinnerungen vergessen können.» Dies ist wohl auch der Antrieb für Specognas unermüdliches Schaffen: Gerechtigkeit für ihre ProtagonistInnen. Zumindest ein bisschen.

Rückkehr nach Uruguay , angetrieben von neuen Fragen: Szenen aus «Tupamaros» (1996) und «Pepe Mujica» (2014).

Die Solothurner Filmtage zeigen ein Dutzend Langfilme sowie frühe Kurzfilme von Heidi Specogna. Die Regisseurin spricht ausserdem über dokumentarische Recherche (Sa, 25. Januar 2020, 17.30 Uhr, Kino Palace) und zeigt in einer Masterclass Ausschnitte aus ihrem neusten Projekt, «Wachs und Gold» (So, 26. Januar 2020, 11 Uhr, Kino im Uferbau).