Durch den Monat mit Heidi Specogna (Teil 3): Drehen Sie nie heimlich?
Heidi Specogna begleitet MigrantInnen auf einem Güterzug durch Mexiko oder begegnet ihren Protagonistinnen in einem Hinterhof in Zentralafrika. Die Filmemacherin kennt keine Trennung zwischen Arbeit und Privatleben.
WOZ: Heidi Specogna, für «Das kurze Leben des José Antonio Gutierrez» reisten Sie mit lateinamerikanischen Migranten auf einer der gefährlichsten Flüchtlingsrouten der Welt: auf dem Dach eines Güterzugs quer durch Mexiko. Als ich den Film vor zehn Jahren sah, fragte ich mich, woher Sie Ihren Mut dazu nehmen.
Heidi Specogna: Diese Frage erstaunt mich immer wieder. Beim Drehen möchte ich einfach möglichst viel über die Menschen und die Situationen, in denen sie leben, herausfinden. Es sind die pure Neugierde und das Interesse, die mich treiben. Ich würde das nie mit Mut gleichsetzen. Und es muss ja schliesslich ein spannender Film entstehen.
Trotzdem, das war ein ziemliches Risiko.
Wir waren ja ein ganzes Team auf dem Zug: Ton, Kamera, Aufnahmeleitung … Mein Ziel war, in diesem Film jeden Moment im Leben der Figur José Antonio nacherlebbar zu machen. Und diese Zugreise war entscheidend in seiner Biografie. Klar wussten wir von den häufigen Überfällen auf die Züge und die Unfälle, wir waren ja nicht naiv. Aber die Neugierde war grösser. Ich überlege mir jeweils im Voraus genau, wie ich vor Ort arbeite: Bevor wir die Kamera anstellten, sprachen wir mit den Reisenden auf dem Zug und erklärten unser Vorhaben. Das finde ich wichtig, ich drehe ja nicht versteckt, sondern lege die Karten auf den Tisch.
Sie drehen nie heimlich?
Das mache ich konsequent nicht, ich arbeite immer mit offenem Visier und immer mit einer offiziellen Drehgenehmigung.
Warum?
Ohne ist es einfach zu gefährlich, ich habe Kollegen, die in den USA ohne Dreherlaubnis unterwegs waren und wegen Spionageverdacht angezeigt wurden. Aber es gibt natürlich Situationen, wo man nur verdeckt arbeiten kann. Ein Beispiel ist Claude Lanzmanns Film «Shoah»: Ihm blieb letztendlich nichts anderes übrig, als einen der Täter verdeckt abzuhören. Die Verpflichtung war grösser, dieses Zeugnis festzuhalten, als die ethische Frage nach dem Material, das ohne zu fragen produziert wurde.
Man muss von Fall zu Fall entscheiden. Ich selber lege sehr viel Wert darauf, meine Haltung zu zeigen und mein Anliegen zu formulieren. Und darauf, dass meine Protagonisten mir vertrauen können. Dazu gehört auch, dass ich sage, wann die Kamera läuft und wann nicht.
Verbindet Sie mit Ihren Protagonisten mehr als nur Ihre Arbeit?
Ja, es war bei mir von Anfang an so, dass es keine Trennung zwischen Beruf und Privatem gab. Wenn du einen Dokumentarfilm machst, musst du ja erst einmal eine tragfähige Beziehung zu den Menschen herstellen, auf der du dann während des Drehens aufbauen kannst. Durch deine Funktion wirst du zum Ohr von jemandem und lernst aber auch von ihm. Die eine Protagonistin aus «Cahier africain», Amzine, hat einmal gesagt: «Du bist die, die immer wieder zurückkommt.» Ich begriff lange nicht, was sie meinte. Doch ich wurde tatsächlich eine Konstante in ihrem Leben. Während zweier Jahre haben wir etwa immer wieder gemeinsam gestrickt. Denn das ist etwas, das wir beide gerne machen. Ich habe ihr Wolle und Strickhefte mitgebracht, und wir hatten ein schönes und für sie lukratives gemeinsames Projekt. Ich wurde Teil ihres Alltags, und sie verkaufte die gestrickten Sachen und hatte ein kleines Einkommen.
Oder bei meinem ersten Film, «Tania la Guerillera»: Da machte ich Besorgungen für Tanias Mutter, half ihr beim Papierkram oder brachte ihr mal ein Huhn vorbei … Wenn ich Arbeit und Privates strikt trennen würde, gäbe mir das das Gefühl, eine Ausbeuterin zu sein. So kann ich meinen Protagonistinnen und Protagonisten immerhin etwas zurückgeben.
Allerdings übernehmen Sie zum Teil eine Verantwortung, die ziemlich weit geht.
Das stimmt. Arlette, das Mädchen mit dem kaputten Knie aus «Cahier africain», hat nach ihrer Knieoperation in Berlin lange bei mir gewohnt, weil sie nicht in das kriegsversehrte Land zurückkehren konnte. Sie war hier mit einem komplett anderen Leben konfrontiert, auch was die Geschlechterrollen anbelangt. Sie lernte zum Beispiel, dass Männer auch bei der Kindererziehung oder im Haushalt mithelfen können. Wir haben viel darüber geredet, und diese Erfahrung hat ihre Ansprüche verändert.
Arlette ist schon lange wieder zurück in ihrer Heimat, aber sie ist noch immer unverheiratet, was dort untypisch ist für ihr Alter. Doch sie hat nun eben andere Ansichten und Erwartungen an einen Ehemann. Man greift als Filmemacherin manchmal, ohne es genau abschätzen zu können, sehr in ein Leben ein.
Wird Ihnen dieses Engagement manchmal nicht zu viel? Oder anders gefragt: Haben Sie auch ein Privatleben?
Es ist schon so, dass ich mein Leben als Filmemacherin lebe. Meine Freunde sind jene, mit denen ich arbeite. Ich mache auch keine Ferien, nur einmal im Jahr gehe ich Ski fahren – allerdings mit meinen Berufskollegen. Als ich an die Deutsche Film- und Fernsehakademie in Berlin kam, wurde meine Klasse zu meiner Familie. Und das blieb sie bis heute: Wir zeigen uns unsere Filme, diskutieren miteinander und arbeiten zusammen. Ich lebe eigentlich noch immer in diesem Klassenverband.
Die Bieler Dokumentarfilmemacherin Heidi Specogna (58) hat mit «Das kurze Leben des José Antonio Gutierrez» 2007 den Schweizer Filmpreis gewonnen. Ihr Film «Cahier africain» läuft zurzeit in den Kinos.