Kost und Logis: Alpiner Rassismus und hartes Brot

Nr. 4 –

Ruth Wysseier war zum Znacht in Leukerbad

Wer nicht reserviert hat, kann nicht erwarten, in der Hochsaison um den Jahreswechsel vor 21 Uhr einen Tisch zu finden. Also Apéro-Time im grossen Hotel am Hauptplatz, das mit seiner Pianobar wirbt. Die Bar ist düster und leer, der Flügel verwaist. Es gebe keinen Pianisten, sagt der Kellner und verschwindet in den Kulissen, für sehr lange. Eine russische Familie taucht auf, offenbar Stammgäste, sie holen Wein und Gläser selbst und legen Holz im Kamin nach. Dann kommt ein Pärchen. Nach zehn Minuten warten sie noch immer. Hoffentlich denken sie nicht, sie würden nicht bedient, weil er schwarz ist, denke ich.

Eine blöde Sorge, schliesslich haben wir 2020, und es ist siebzig Jahre her, dass der New Yorker Schriftsteller James Baldwin in Leukerbad war. In seinem Essay «Fremder im Dorf» schrieb er: «Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, hatte vor mir kein schwarzer Mann dieses kleine Dorf in der Schweiz jemals betreten.» Die Kinder riefen ihm «Neger! Neger!» nach. Und trotzdem kehrte er zweimal zurück, um seinen ersten Roman zu beenden. Die Menschen wollten nicht unfreundlich sein, wenn sie «staunten, dass die Haut meiner Hand nicht abfärbte». Die einzige wirkliche Attraktion seien die heissen Quellen. Dass so viele behinderte Menschen zu Badekuren da seien, verleihe dem Ort «eine ziemlich erschreckende, heilige Aura, wie eine kleinere Ausgabe von Lourdes».

Was verbindet Christa Rigozzi, Goethe und Thomas Cook mit Baldwin? Auch sie waren in Leukerbad und haben dem Ort ein Zeugnis ausgestellt. Rigozzi hatte zum Jahreswechsel ein unangenehmes Erlebnis mit einer Tischreservation, die nicht geklappt hatte – was sie auf Instagram verarbeitete. Goethe schwieg sich über das Abendessen aus und reiste schon am nächsten Morgen weiter. Immerhin hatte er vermutet, «dass man bei längerem Aufenthalt gar interessante und gute Leute finden würde». Thomas Cook, der Erfinder der Pauschalreisen, war im Sommer 1863 da und führte eine Gruppe über die Gemmi nach Kandersteg. Dass das lokale Brot steinhart war und das Abendessen mit «chamois» ungeniessbar, erfährt man im spöttischen Reisebericht von Cooks Begleiterin Miss Jemima Morrell.

Es gibt beim Reisen nichts Schöneres, als in der Geschichte der besuchten Orte zu stöbern. Wer sich etwa wundert, wieso in diesem so ganz und gar nicht mondänen Leukerbad etliche Prunkbauten stehen, stösst auf den ehemaligen Dorfkönig Otto G. Loretan. Dieser liess in den 1980er Jahren Bäder, eine Sportarena und ein pompöses Rathaus bauen. Nach einem veritablen Goldrausch hinterliess seine Investorengruppe einen Schuldenberg von 346 Millionen Franken, die Gemeinde wurde zwangsverwaltet, Loretan landete im Gefängnis.

Auch in der «Alpenrose», zu deren Boykott Rigozzi ihre 40 000 FollowerInnen aufgerufen hatte, fanden wir übrigens nie einen freien Tisch. Die Leute solidarisierten sich vielmehr mit der beschimpften Wirtin, was doch eine schöne Form von Schwarmintelligenz ist.

Ruth Wysseier ist Winzerin am Bielersee.