Pariser Nationaloper: Aufstand im Orchestergraben

Nr. 4 –

Seit dem Beginn der landesweiten Streiks gegen die von der französischen Regierung geplante Rentenreform geht in der weltweit renommierten Nationaloper nichts mehr.

Was, wenn die Pariser Nationaloper zahlungsunfähig wird? Noch gibt es Spielraum für Ausweichmanöver. Aber nach internen Informationen, die der WOZ vorliegen, steuert der Riesentanker auf die Klippe Insolvenz zu. Seit dem Beginn des Streiks gegen Frankreichs Rentenreform am 5. Dezember bis zum Erscheinungstermin dieser WOZ wurden sämtliche Vorstellungen abgesagt. Allein im Dezember bezifferten sich die Verluste für 65 annullierte Matineen und Abende auf 14 Millionen Euro.

Spielen da wieder einmal unverantwortliche GewerkschafterInnen im Kampf um ihre Privilegien mit dem Feuer? Im Gespräch mit fünf Personalvertretern des grössten Opernhauses der Welt ergibt sich ein anderes Bild. Die künstlerische Motivation ist hoch, die Arbeitslast freilich auch. Nicht selten sitzen die MusikerInnen sechsmal in der Woche im Orchestergraben – und das drei Wochen im Monat. Auch die SängerdarstellerInnen des Chors sind stark beansprucht. «Einmal stand ich innerhalb eines Monats 23-mal auf der Bühne», erinnert sich der Tenor Olivier Fillon. An ihren beiden Standorten Opéra Bastille und Palais Garnier gibt die Nationaloper rund 360 abendfüllende Vorstellungen im Jahr.

Hüftgelenke aus Titan

Der körperliche Verschleiss ist hoch. InstrumentalistInnen leiden an Muskel- und Skeletterkrankungen, ChorsängerInnen an Stimmstörungen, BühnenarbeiterInnen an Rückenproblemen. TänzerInnen brauchen zum Teil schon mit vierzig Hüftgelenke aus Titan. Doch seit einer Nivellierung der betreffenden Kriterien 2008 gelten die Arbeitsbedingungen nur noch für eine Handvoll Mitarbeitende als beschwerlich – nämlich für die NachtwächterInnen der hausinternen Ballettschule. Alle anderen sind offiziell fit, um – wie der Rest der FranzösInnen – erst mit 62 (beziehungsweise künftig 64 oder 65) Jahren in Rente zu gehen.

Die MitarbeiterInnen der Oper protestieren gegen die geplante Auflösung ihrer spezifischen Rentenkasse in einem «universellen» Regime. Dieses trägt den Besonderheiten ihrer Metiers in keiner Weise Rechnung. «Das derzeitige Regime», erklärt der Englischhornist Christophe Grindel, «regelt neben der Rente auch das Problem der Arbeitsunfähigkeit. Ein Mitglied des Balletts, des Chors oder des Orchesters, das ersetzt werden muss, erhält dank einer Zusatzversicherung bis zum Erreichen des Rentenalters 85 Prozent seines Gehalts. Das ‹universelle› Regime dagegen dekretiert, dass Musiker, die einen Finger, oder Sänger, die ihre Stimme verlieren, bloss zu 3 bis 8 Prozent invalide sind!»

Ein weiteres Problem ist, dass das «universelle» Regime um bis zu einem Drittel niedrigere Rentenbeträge zeitigen wird. «Für Angestellte der Oper wird die Höhe der Pension derzeit auf der Grundlage ihrer sechs letzten Monatsgehälter beziehungsweise, was die TänzerInnen, SängerdarstellerInnen und InstrumentalistInnen angeht, ihrer drei einträglichsten Jahre berechnet», erklärt der Videotechniker Matthias Bergmann. «Die stillschweigende Übereinkunft mit dem Staat ist, dass wir weniger verdienen als im Privatsektor oder im Ausland, dafür aber eine halbwegs anständige Pension erhalten. Kalkuliert man deren Höhe nun freilich nicht mehr auf der Grundlage der ‹fetten Jahre›, sondern auf jener der gesamten Berufslaufbahn, kann der Betrag drastisch sinken. Viele Kolleginnen und Kollegen haben sich jahrelang als unterbezahlte Freiberufler durchgeschlagen, bevor sie hier angestellt wurden.»

Ein Qualitätsverlust droht

Gerade bei den TänzerInnen droht das neue Regime die Anziehungskraft der Nationaloper markant zu verringern. Dafür, dass das Ballett zur Weltspitze zählt, sind die Löhne bescheiden: zwischen knapp 3000 und etwas mehr als 6000 Euro Monatsgehalt, nach Ende ihrer Karriere erhalten sie weniger als die Hälfte dieser Beträge als Rente. Sollen die Truppenmitglieder fortan statt mit 42 erst mit 62 Jahren in Pension gehen, wird der Nachwuchs nach London, New York oder Skandinavien ausweichen. Mit 60 oder auch bloss mit 50 tanzt niemand mehr halsbrecherische Stücke von Rudolf Nurejew oder Merce Cunningham. Und was dem Ballett droht, gefährdet in milderer Form auch Chor und Orchester: Überalterung und Qualitätsverlust. «Im Chor ist es bereits jetzt unglaublich schwierig, neue Mitglieder anzuheuern», klagt der Tenor Olivier Fillon. «Neun Stellen sind zurzeit offen, aber Nachwuchs mit dem nötigen Niveau lässt sich einfach nicht finden.»

Fazit? Das Rentensystem der Pariser Nationaloper widerspricht den Prinzipien des «universellen» Regimes – mit gutem Grund. Es hält die Truppe – und die gesamte Belegschaft – jung und alert. Niemand hat etwas davon, wenn MitarbeiterInnen, die Höchstleistungen nicht mehr erbringen können, bis weit über sechzig hinaus ihre Tätigkeit weiter ausüben müssen, weil das «universelle» Regime es so will. Doch künstlerischer Elitismus und (vermeintlicher) rentenpolitischer Egalitarismus lassen sich nur schwer vereinen. Das Kulturministerium, das die Oper eigentlich schützen sollte, zeigt sich einmal mehr unvorbereitet und willfährig. So ist es an den Betroffenen selbst zu retten, was noch zu retten ist. Der Solobratscher Jean-Charles Monciero etwa schlug vor, die Rentenkasse in eine Art Vorsorgekasse für Frührente und Invalidität zu verwandeln. Operndirektor Stéphane Lissner stellte seinerseits eine Reflexion über die berufliche Neuorientierung der TänzerInnen in ihrem fünften Lebensjahrzehnt in Aussicht. Doch kam er nicht umhin, angesichts der finanziellen Schräglage auch drastische Sparmassnahmen anzukündigen.