Pariser Oper: Endlich ein Anfang

Nr. 9 –

Das grösste Opernhaus der Welt beschäftigt sich mit seinen Diversitätsdefiziten. Ein neuer Bericht zeigt, wie sich das Haus für die Zukunft aufstellen kann: auf der Bühne, aber auch im Orchestergraben.

Sogar mit der Lupe ist keine Diversität zu finden: Aufführung von «La Bayadère» an der Pariser Nationaloper im Jahr 2015. Foto: Little Shao, Opéra national de Paris

Später als andere Musikbühnen und Balletttruppen befasst sich die Opéra national de Paris mit dem Komplex «ethnische Vielfalt». Spät, aber gründlich: Auf Wunsch seines Anfang September angetretenen Intendanten, des Deutschen Alexander Neef, hat das grösste Opernhaus der Welt einen «Rapport sur la diversité» in Auftrag gegeben. Der 66-seitige Bericht wurde am 8. Februar den Medien vorgestellt und ist auf der Website der Pariser Nationaloper abrufbar. Seine AutorInnen, Constance Rivière und Pap Ndiaye, haben Gespräche mit rund vierzig MitarbeiterInnen des Hauses sowie mit gut fünfzig auswärtigen Sachverständigen geführt.

Homogenität durchbrechen

Ausgangspunkt war das Manifest «De la question raciale à l’Opéra national de Paris», das elf Mitglieder des Balletts, des Chors sowie des Vereins der Opernfreunde – alles People of Color – letzten Sommer aufgesetzt hatten. Der von rund 300 der 1905 Angestellten des Hauses unterzeichnete Text legt den Finger auf wunde Punkte und formuliert Vorschläge zur Abhilfe. Der Bericht zum Thema «ethnische Vielfalt an der Oper» ist vom selben konstruktiven, unverkrampften Geist geprägt wie das Manifest, systematisiert aber dessen Ansatz.

So blicken Rivière und Ndiaye zunächst zurück auf die über 350-jährige Geschichte des Hauses und richten ihr Augenmerk auf Werke mit «exotischen» ProtagonistInnen, die Anlass zu rassistisch grundierten Stereotypisierungen geben können. Das betrifft nicht nur Repertoirepfeiler wie Rameaus Ballettoper «Les Indes galantes» (1735), deren vier Akte in der Türkei, in Peru, in Persien und in Nordamerika angesiedelt sind, sondern auch selten Gespieltes wie «Aline, Reine de Golconde» (1766) von Pierre-Alexandre Monsigny oder «L’Africaine» (1865) von Giacomo Meyerbeer. In den beiden letztgenannten Werken verwendeten KostümbildnerInnen einst dunkle Leibchen, um den InterpretInnen schwarzer Figuren zur entsprechenden Hautfarbe zu verhelfen. Im Tanzbereich sah das 19. Jahrhundert etliche Variationen auf das Thema Bajaderen (indische Tempeltänzerinnen) sowie die Entstehung von sogenannten Ballets blancs wie «Giselle» oder «La Sylphide». Diese sind aus anderen Gründen problematisch: Laut PuristInnen verunmöglicht die angestrebte Homogenität des (weissen) Corps de Ballet die Aufnahme andersfarbiger Tänzerinnen.

Sind gewisse Werke demnach aus dem Repertoire zu verbannen? Ende Dezember hatte eine (absichtlich?) verzerrte Aussage von Alexander Neef ein Stürmchen im medialen Wasserglas hervorgerufen. Um sich «kapriziösen Minderheiten» beziehungsweise «Pseudo-Progressisten» anzudienen, wolle der Intendant Nurejews «Nussknacker» und «Schwanensee» verbieten, wetterten rechtsextreme PolitikerInnen. Im Gespräch hatte Neef allerdings ganz anders geklungen: Es gehe nicht ums Exkommunizieren, sondern ums Kontextualisieren, sagte er da sinngemäss. Und Rivière und Ndiaye sind ganz mit ihm eins: Sofern man sie mit kritischer Distanz und heutigem Feingefühl aufführe, hätten auch problematische Werke – etwa «Otello» und «Madama Butterfly» im Opern-, «La Bayadère» und «Petrouchka» im Ballettbereich – ihren Platz auf dem Spielplan. Black-, Brown- und Yellowfacing seien dabei absolut zu verpönen; und die Harmonie von «weissen» Balletten lasse sich durch andere Mittel erzielen als durch identische Hautfarben.

Leider jedoch sei die Pariser Oper «als Ganzes eine weisse Welt, die weit entfernt ist vom Aussehen der heutigen französischen Gesellschaft». VertreterInnen sichtbarer Minderheiten muss man auf Gruppenfotos von Chor, Orchester und Ballett mit der Lupe suchen. Dass sich so wenige Nichtweisse zu BerufsmusikerInnen ausbilden lassen, kann man der Oper gewiss nicht ankreiden. Hier wäre Frankreichs Erziehungssystem gefordert. Hingegen hat das Haus einen direkten Einfluss auf das Profil der AnwärterInnen für die Aufnahme in die Balletttruppe. Deren Mitglieder entstammen nämlich fast alle der internen Tanzschule. Laut Rivière und Ndiaye sollte es möglich sein, die Fühler weiter auszustrecken, um junge Talente anzuziehen, die heute – geografisch wie soziokulturell – ausserhalb des Rekrutierungsbeckens liegen.

Im Widerspruch zum Egalitarismus

Manche der formulierten Vorschläge rennen offene Türen ein, andere tönen blauäugig oder fachfremd. Doch ist das Thema nunmehr auf dem Tisch, versehen mit einem offiziellen Siegel. Der Bericht bildet laut Neef nicht den Abschluss, sondern den Beginn des Prozesses. Am Intendanten und an der Führungsequipe um ihn wird es liegen, jene Empfehlungen auszuwählen, deren Umsetzung Sinn ergibt.

Die empfohlene Einführung statistischer Erfassungen der Diversität innerhalb des Opernpersonals – nicht nur die ethnische Herkunft, sondern auch Alter, Geschlecht und Behinderungen betreffend – widerspricht Frankreichs Egalitarismus, dessen Universalismus über derlei Kategorien erhaben sein will. Eine solche Erfassung ist aber unabdingbar, will man eine Bestandsaufnahme vornehmen und künftige Entwicklungen messen. Was die angestrebte Steigerung der Diversität betrifft, bildet die soeben erfolgte Ernennung der Frankotaiwanesin Ching-Lien Wu zur neuen Chorleiterin ein vielversprechendes Signal.