Globaler Kapitalismus: Die Macht der Strasse

Nr. 5 –

Die weltweite Ungleichheit, die rasante Klimaerhitzung: Viele Wirtschaftsleute, die das Wef in Davos besuchen, tun so, als ginge sie das nichts an. Doch es gibt auch Bewegung.

Geringer Andrang: Beim Gespräch mit Greenpeace-Chefin Jennifer Morgan wies die Regie die Gäste an, zusammenzurücken. Foto: Boris Baldinger, Wold Economic Forum

Die Wirtschaftsbosse am Wef erinnerten ihn an das Orchester der «Titanic», sagte der kritische chilenische Unternehmer Gonzalo Muñoz auf einem Podium in Davos. Die Ungleichheit wachse, die Welt rase auf die Klimakatastrophe zu, doch in den Lobbys des Davoser Kongressgebäudes fädelten die Mächtigsten der Welt neue Geschäfte ein, als wäre nichts. Das Orchester spiele einfach weiter.

Der Mann hat recht. Doch das ist nicht die ganze Geschichte. Weltweit gehen derzeit Millionen gegen soziale Ungleichheit und die Klimaerhitzung auf die Strasse. Man muss aufpassen, die Erfolge dieser Menschen nicht zu verkennen: Es bewegt sich etwas. Paradoxerweise führt der rechtsnationale Backlash auch unter WirtschaftsführerInnen zu einem Umdenken. Sie denken gar marxistischer als einige Linke: Nur wenige von ihnen würden bestreiten, dass die Folgen der Finanzkrise 2008 der Hauptgrund für den Aufstieg des Nationalismus sind.

Gleichzeitig musste selbstverständlich jeder halbwegs progressiv denkende Mensch, der Donald Trumps Auftritt besuchte, am Abend im Bett gegen den eigenen Zynismus ankämpfen. Geschlagene zwanzig Minuten lang leierte der US-Präsident halb erfundene Statistiken über seine Wirtschaftserfolge herunter, die er mit lächerlich eitlen Grimassen als «Noch nie zuvor gesehen!» oder «Historisch!» kommentierte. Das war, bevor er die Erschliessung neuer fossiler Energiequellen verkündete und die KlimawarnerInnen als «dumme Wahrsager von gestern» beschimpfte.

Lachen mit Trump

Noch irritierender als die Rede des Mannes, der das Pariser Klimaabkommen aufgekündigt hat, war die Reaktion der Geschäftsleute im Saal: Sie lachten nicht über Trump, sie lachten mit ihm – bei jeder einzelnen einstudierten Pointe. Und jedes Mal, wenn sein schütteres gelbes Haar irgendwo im Kongresszentrum am Horizont auftauchte, rannten ihm Dutzende wie wild gewordene Groupies mit der Handykamera hinterher.

Auf Nachfrage äussern sich die meisten dann doch kritisch über Trump. Selbst Rechte wie Harvard-Ökonom Ricardo Hausmann, einflussreicher Mentor von Venezuelas selbsternanntem Präsidenten Juan Guaidó: Er frage sich, woher Trump diese Zahlen nehme, meinte Hausmann an der Bar der Lobby, sein Wirtschaftserfolg sei ein Strohfeuer auf Pump – und seine riesige Steuersenkung für Unternehmen habe die Ungleichheit in den USA weiter verschärft. Ihm habe jedoch die Energie in Trumps Rede gefallen.

Das ist, was den Wirtschaftsleuten an Trump gefällt: Sie mögen ihn, weil er mit seinem «America First»-Nationalismus den egoistischen Geist des Kapitalismus in die Politik trägt. Trump sei ein Gewinner, schwänzelte Fifa-Chef Gianni Infantino bei einem Dinner, an dem der US-Präsident die Chefs der grössten Weltkonzerne traf. Und sie mögen ihn, weil er ihnen Geschenke macht: Als jemand auf einem Podium als Rezept gegen die historisch tiefen Zinsen weitere Steuersenkungen vorschlägt, empfiehlt Trumps Wirtschaftsberater Larry Kudlow, dazu gleich auch noch die Märkte weiter zu deregulieren. Das sei doch viel lustiger, «just so much more fun!». Erneut Gelächter.

Weiter wie bisher

Leider ist Trump nicht allein, er ist bloss unverfrorener als viele andere: Die Uno hat die Pläne von zehn entscheidenden Kohle-, Erdöl- und Erdgasländern untersucht und kommt zum Schluss: Ihr CO2-Ausstoss wird weiter steigen statt sinken. Zum Auftakt des Wef stellte Greenpeace eine Studie vor, nach der 24 Grossbanken, die regelmässig in Davos sind, seit dem Pariser Klimaabkommen 2015 1,4 Billionen US-Dollar neu in fossile Energie investiert haben. Die entwicklungspolitische Organisation Oxfam warnte in derselben Woche, dass die 2153 Reichsten der Welt so viel Vermögen besitzen wie die ärmsten 4,6 Milliarden Menschen.

Solange die Regierungen nicht die nötigen Gesetze beschliessen, um das Pariser Klimaabkommen umzusetzen, das zum Ziel hat, die durchschnittliche globale Erwärmung im Vergleich zur vorindustriellen Zeit auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen, werden die Chefs der Grossbanken in Davos mit den Energiekonzernen weitere Deals einfädeln. Gleichzeitig treiben die Chefs von Techgiganten wie Google die Steuervermeidung und die Untergrabung des Arbeitsrechts weiter voran. Ihr messianischer Techoptimismus macht sie blind. Ob die Welt seit der Existenz des Fahrdiensts Uber (der auf unversicherte Scheinselbstständige setzt) denn nicht eine bessere sei, fragte einer von ihnen an einem Abendapéro in kleinem Kreis. Wer das bestreiten wolle, solle die Hand heben. Er wartete gar nicht erst eine Reaktion ab, weil er nicht glaubte, dass sich da ernsthaft jemand melden würde.

Beim Eindunkeln fahren am Abend die schwarzen Limousinen in Davos auf, in deren blankpolierten Karosserien die Leuchtschriften der Luxushotels aufblitzen, in die sich die Geschäftsleute chauffieren lassen. Drinnen wird bis spät in die Nacht geschlemmt, Visitenkarten werden getauscht, es wird Party gemacht.

Seit der Klimadebatte ist die Ungleichheit am Wef kein grosses Thema mehr, doch auch das Umweltinteresse sollte nicht überschätzt werden. Ausser beim Auftritt der Klimaaktivistin Greta Thunberg, die den Anwesenden «leere Versprechen» vorwarf, blieben die Klimapodien halb leer. Bei einem Gespräch mit Greenpeace-Chefin Jennifer Morgan und der siebzehnjährigen südafrikanischen Klimaaktivistin Ayakha Melithafa wies die Regie die Gäste an, sich im kleinen Raum hinter die ReferentInnen zu setzen, damit das live übertragene Podium etwas voller erscheine.

Die Bosse der Energiekonzerne wollten bis zum letzten Tropfen Öl profitieren, sagte die junge Südafrikanerin, deren Familie wegen der Trockenheit unter Ernteausfällen leidet. Gleichzeitig umgingen sie die Steuern, die Südafrika bräuchte, um den Klimawandel zu bekämpfen. Sie habe die Bosse hier am Wef damit konfrontiert, sagte Melithafa anschliessend im Gespräch. «Sie hören mir mit ihrem Pokergesicht zu, aber ich weiss nicht, ob sie es auch verstehen.»

Immerhin ein Anfang

Und dennoch bewegt sich etwas. Auch wenn das Wef nur wenige AktivistInnen einlädt, mit denen sich dann kaum ein Konzernchef auf das Podium wagt: Die Geschäftsleute hier kennen die Forderungen der Millionen, die derzeit auf die Strasse gehen. «Sozialismus: Warum er zurück ist und was das bedeutet», polemisierte das US-Magazin «Foreign Policy» auf dem knallroten Cover seiner Davoser Sonderausgabe, die im Kongresszentrum auflag. Sollten sie da nicht besser handeln, damit es doch nicht ganz so schlimm kommt?

Nach Trump stellte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihren «Green Deal» vor, der bis 2050 aus Europa einen klimaneutralen Kontinent machen soll. Vorgesehen sind unter anderem Zölle auf importierte Produkte mit hohem CO2-Ausstoss. Die Chefin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, möchte ihrerseits das Klima zu einem Eckpfeiler ihrer Geldpolitik machen. Und obwohl auch China den Beweis noch erbringen muss, versprach Vizepremierminister Han Zheng, dass sein Land eine «Vorreiterrolle» im Kampf gegen die Klimaerhitzung spielen werde.

Frankreich hat jüngst eine Steuer für Digitalkonzerne eingeführt. Finanzminister Bruno Le Maire, der an einem runden Medientisch die «Neugründung des weltweiten Kapitalismus» versprach, will Druck auf die USA machen, damit diese bei einer globalen Unternehmenssteuerreform mitziehen, die die OECD derzeit vorantreibt. NGOs kritisieren zu Recht, dass die aktuellen Pläne die Interessen der südlichen Länder zu wenig berücksichtigten. Trotzdem wäre der geplante globale Mindeststeuersatz für Konzerne eine Revolution.

Ausgerechnet die OECD und der IWF, die über Jahrzehnte die Entfesselung des Kapitalismus vorangepeitscht haben, gehören heute zu den progressiveren Stimmen: Kaum jemand schimpfte am Wef mit derart klaren Worten gegen die Steuervermeidung der Konzerne wie der joviale OECD-Chef Angel Gurría. Und als US-Wirtschaftsberater Kudlow seine Deregulierungsfantasien ausbreitete, war es IWF-Chefökonomin Gita Gopinath, die zu mehr öffentlichen Investitionen und zur Bekämpfung der Ungleichheit riet.

Natürlich sei vieles, was in Davos versprochen werde, für die Kulisse, meinte Greenpeace-Chefin Jennifer Morgan bei einem Kaffee. Wie ihr Report zeige, seien viele Behauptungen der Banken, die das Wef mitfinanzierten, «Bullshit». Sie hinterfrage deshalb immer wieder, ob ihre Teilnahme am Wef überhaupt etwas bringe. Doch sie sehe auch Bewegung. Es gebe Konzerne wie Blackrock, die ihre Worte ernst zu meinen schienen. Und einzelne, die bereits handeln würden.

Der Chef des weltweit grössten Vermögensverwalters Blackrock, Larry Fink, hatte kurz vor dem Wef in einem Investorenbrief das Klima zu einem zentralen Kriterium der künftigen Investitionspolitik erklärt. «Ich mache das nicht, um populär zu sein», sagte Fink am Wef. Sein Ziel sei, Geld für seine KundInnen zu erzielen. Der Klimawandel werde immer mehr zum Investitionsrisiko. Gleichzeitig sei mit den grünen Technologien Geld zu verdienen. Fink warnte zudem vor dem Aufstieg «populistischer Leader», sollte der Kampf gegen den Klimawandel auf Kosten der Ärmsten gehen.

Ein Konzern, der bereits handelt, ist die Allianz. Die KundInnen würden eine Kursänderung verlangen, sagte Günther Thallinger, Vorstandsmitglied der Versicherung, bei einem Gespräch. Die Versicherung hat mit anderen Anlegern einen Zusammenschluss gegründet, dessen Mitglieder sich verpflichten, den CO2-Ausstoss ihrer Investitionen bis 2050 auf netto null zu bringen. Dafür würde man versuchen, die Unternehmen zu einer Kursänderung zu bewegen, sagte Thallinger. Der Investitionsabzug sei lediglich der «letzte Schritt». Es gebe genug Investoren, die in die Lücke springen würden.

Alles nicht genug? Nein, doch es ist immerhin ein Anfang. Mehr Bewegung wird es nur geben, wenn der soziale Druck von der Strasse wächst. Wie die US-Aktivistin Naomi Klein in ihrem jüngsten Essayband «On Fire» bemerkt, setzte US-Präsident Franklin Roosevelt den «New Deal» in den 1930er Jahren nicht aus Mitgefühl für die Armen durch – sondern auf Druck massiver sozialer Proteste.