Pop: Ökonomin des Klanges

Nr. 7 –

Neues aus dem Hardcore Continuum: Beatrice Dillon hat mit dem Album «Workaround» ein Antimeisterwerk der elektronischen Musik geschaffen.

Mit einem analytischen Sinn für Kreativität: Beatrice Dillon inszeniert den liquiden Raum zwischen den Klängen immer wieder neu. Foto: Nadine Fraczkowski

Architektur ist gefrorene Musik. Hat Arthur Schopenhauer mal behauptet. Glaubt man dem Tiefbaumeister der Philosophie, dann muss Musik im Umkehrschluss zerfliessende Architektur sein. Ein Tauen und Tröpfeln von Form, Proportion, Material und Statik, die im unendlichen Strom der Zeit ins Schwappen geraten.

Bei Beatrice Dillon ist es nicht zu überhören: Hier wird enteist. Was die englische Produzentin mit Klängen anstellt, ist ein Spiel mit Raum und Zeit, das starre Strukturen nachhaltig aufweicht. Die Tageszeitung «The Guardian» kürte sie soeben zur «aufregendsten neuen Stimme der britischen elektronischen Musik». Dillon kommentiert das auf Nachfrage trocken: «Die britische Presse ist generell für einen Haufen Lügen verantwortlich.» Sie fühle sich geschmeichelt, gebe aber wenig auf solche Superlative.

In einer Ära, in der Kunst und Pop hauptsächlich biografisch interpretiert werden und jeder Ton und Pinselstrich durch Einblicke in das körperlich-seelische Sosein der Urheberin legitimiert wird, möchte Dillon dezent hinter ihrem Werk verschwinden. Beim Interview erklärt sie, dass sie über Privates nicht gerne spreche, auch ihr Geburtsjahr nicht in einem Artikel über sich lesen möchte. So viel kann zur Veröffentlichung ihres Debütalbums «Workaround» immerhin verraten werden: Eine erste LP haben viele ihrer KollegInnen bereits deutlich jünger veröffentlicht. Auch eine DJ-Karriere kann man schlachtplanmässiger angehen.

Klassische Kulturarbeiterin

Dillons Lebenslauf liest sich beispielhaft: Es ist der einer klassischen Kulturarbeiterin. Sie ist in London aufgewachsen und lebt heute im Osten der Stadt. Sie jobbte in Plattenläden, machte Sendungen für Onlineradios und Features für die BBC, arbeitete im Klangarchiv der British Library, produzierte Filmsoundtracks. Und studierte irgendwann auch Kunst. «In den vergangenen siebzig Jahren ging es in der bildenden Kunst weniger um spezifische Techniken als vielmehr um den philosophischen Ansatz, wie man etwas anpackt», sagt Dillon. «Das ist es, was ich von der Kunsthochschule mitgenommen habe: ein Interesse an Ideen, einen analytischen Sinn für Kreativität. Meine Musik funktioniert eher auf diese Art, als nur an hedonistischen Aspekten interessiert zu sein.»

Den grossen Rumms auf der Tanzfläche liebt Dillon trotzdem. Aber sie findet ihn vor allem von der künstlerischen Praxis her interessant: «Der Computer befreit dich von allem musikalischen Ballast. Das hat viel mit den Beschränkungen und Freiheiten der elektronischen Geräte zu tun. Und nichts damit, die C-Dur-Skala zu kennen.»

Die Strukturen, in denen Dillon arbeitet, sind der bildenden Kunst näher als denen von Rock ’n’ Roll oder DJ-Globetrotting. Durch ein Residenzprogramm steht ihr im Somerset House, einem Palastgebäude aus dem 18. Jahrhundert in Central London, seit über zwei Jahren ein Studio zur Verfügung. Ein Luxus in der britischen Metropole, in der man beinahe müde wurde, über den Mangel an kreativem Freiraum zu jammern. Im Somerset House arbeitet Dillon an Klanginstallationen, dort hat sie mit einem Dutzend GastmusikerInnen, darunter eine Cellistin, ein Tablavirtuose und ein Koraspieler, auch ihr Debütalbum produziert, das jetzt beim Label Pan erscheint.

Dillon hat das Album «Workaround» genannt: Behelfslösung. Es soll bloss nichts Finales behaupten, egal wie sehr es gerade gelobt und gefeiert wird. «Es versteht sich als nicht endgültiges Statement», sagt Dillon, «als Antimeisterwerk, Antibeherrschung, Antiabschluss. Es bietet einfach eine Reihe von vorläufigen Ergebnissen.» Die meisten dieser vierzehn Zwischenresultate sind schlicht durchnummeriert, von «Workaround One» bis «Workaround Ten», mit ein paar Ausnahmen dazwischen. Der gute alte Konzepttechno lässt grüssen.

Varianten des ewig Gleichen

Noch näher fühlt sich Dillon aber dem Dub, besonders der Studiotechnik und der Idee von immer neuen Variationen des ewig Gleichen, die jamaikanische Produzenten seit Jahrzehnten verfolgen. «Ich denke, das ist eine sonderbare Dubplatte geworden», sagt sie, betont aber, dass sie auf die ästhetischen Standards – viel Hall, endlose Echos – fast vollständig verzichtet. «Ich übernehme die Prinzipien dieser Musik, aber nicht die Stilistik: Es geht darum, Raum für die Ökonomie des Klanges zu schaffen.»

Damit wird Dillons Musik zur nächsten Entwicklungsstufe im Hardcore Continuum, dem transatlantischen Schwappen der Basswellen von Jamaika nach Bristol und Brixton, das seit Jahrzehnten die britische Clubmusik vorantreibt. «Workaround» ist Dub bis auf die Knochen, aber in seinem neuen Gewand kaum wiederzuerkennen.

Das Faszinierendste an «Workaround» ist der Umgang mit dem Raum zwischen den Klängen, das besondere Gespür, mit dem Dillon die liquiden Zwischenräume immer wieder neu inszeniert. Überspitzt gesagt: Die einzige Klangfläche, für die sie sich interessiert, ist die Leere. Sie mag die Vorstellung, dass es tausendundeine unterschiedliche Schattierung von Stille gibt. «Stille ist relativ, nicht wahr?», sagt sie. «Mich interessiert, wie man die Aufmerksamkeit auf etwas fokussieren kann, auch wenn gar nicht viel passiert. Wenn man sich darauf einlässt, kann man von sehr wenigen Details sehr viel zurückbekommen.»

Erscheint im März 2020.

Beatrice Dillon: Workaround. Pan Records