Rentenreform: Das Ende der zweiten Säule
Die Reform des Bundesrats für die zweite Säule ist ein Eingeständnis, dass diese ein Auslaufmodell ist. Irgendwann werden auch die Bürgerlichen diese Realität nicht mehr leugnen können.
Das Pensionskassensystem der Schweiz liegt im Sterben. Und dennoch klammern sich die bürgerlichen Parteien von SVP bis GLP verzweifelt daran fest, als wäre es ein geliebter Verwandter. Hier liegt vielleicht das grösste Problem bei der Reform der zweiten Säule, die Innenminister Alain Berset kurz vor Weihnachten in die Vernehmlassung geschickt hat.
Jahrzehntelang wurde behauptet, die zweite Säule sei der AHV überlegen, weil Sparen zu mehr Investitionen führe und so die Wirtschaft ankurble. Wer das heute noch glaubt, muss die letzten zehn Jahre geschlafen haben: Noch nie lag so viel billiges Geld zum Ausleihen bereit – und trotzdem lahmen die Investitionen wie kaum zuvor. Das enorme Angebot an Ersparnissen, zu denen die zweite Säule beiträgt, hat vielmehr mit dazu geführt, dass der Preis dieses Geldes – der Zins – immer weiter sinkt. Wer 1990 dem Bund für zehn Jahre Geld lieh, erhielt dafür 6 Prozent Rendite. Heute muss man 0,7 Prozent draufzahlen. Der Kapitalismus spart sich tot.
Entsprechend haben die Pensionskassen immer grössere Mühe, ausreichend hohe Renditen zu erzielen, um die Renten auszahlen zu können. Das ist nebst der steigenden Lebenserwartung ein Hauptgrund dafür, dass der Bundesrat mit seiner Reform den Umwandlungssatz senken will – von 6,8 auf 6 Prozent. Der Umwandlungssatz gibt vor, wie viel die Kassen den RentnerInnen jährlich ausbezahlen. Mit der Reform würden die Renten um 12 Prozent sinken. Der Kapitalmarkt vermag die einst gemachten Versprechen nicht mehr zu erfüllen.
Und nein, die Zinsen werden auch nicht bald wieder steigen: Sie sinken nicht erst seit Anfang der neunziger Jahre. Eine neue Studie der britischen Zentralbank zeigt, dass der Trend seit dem 14. Jahrhundert nach unten zeigt.
Milliardenumverteilung nach oben
Doch das ist nicht das einzige Problem: Die Minuszinsen führen zu einer massiven Umverteilung von den Ärmeren zu den Reichen. Die Pensionskassen leihen traditionell einen Grossteil der Ersparnisse dem Bund, indem sie Obligationen kaufen. Der Zins, den die Kassen dafür wiederum vom Bund einstecken, wird von den SteuerzahlerInnen bezahlt; aufgrund des progressiven Steuersystems bezahlen Reiche logischerweise mehr an den Zins als ärmere Haushalte. Da mit Obligationen kein Geld mehr zu verdienen ist, stecken die Pensionskassen ihr Geld nun jedoch immer mehr in Immobilien. 2009 machten Immobilien noch 18 Prozent der Pensionskassenanlagen aus, heute sind es bereits 25 Prozent. Anders als bei Obligationen zahlen Reiche jedoch in diesem Fall kaum an die Rendite: Sie besitzen schliesslich oft ein Eigenheim. Die Rendite auf das Geld, das in Immobilien angelegt wird, zahlen die Haushalte mit bescheideneren Mitteln, die Miete zahlen.
Die eklatante Ungleichheit der Pensionsvermögen zwischen Klein- und GrossverdienerInnen wird so zusätzlich verschärft: Die Leute mit kleinerem Lohn zahlen mit ihrer Miete die Rendite auf die Pensionsvermögen der Reichen. Das heisst, dass Leute mit kleinerem Lohn mehr zur Rendite der zweiten Säule beitragen, als sie an Rendite erhalten. Und je mehr Geld die Pensionskassen in Immobilien stecken, desto schneller steigen auch die Mieten. Ein perverses System. Dabei erhalten Ärmere, weil sie statistisch weniger lang leben, ohnehin schon weniger Rente: Eine Frau ohne Ausbildung oder mit Lehrabschluss bezieht laut einer Studie des Bundes im Schnitt drei Jahre weniger lang Rente als eine mit höherer Ausbildung.
Es ist deshalb grundsätzlich falsch, dass der Bundesrat nun versucht, dieses System am Leben zu erhalten. Hinzu kommt, dass die geplante Senkung des Umwandlungssatzes zusätzlich auf Kosten von Leuten mit kleinerem Lohn ginge. Der Umwandlungssatz garantiert ihnen heute ihre Rente. Um diese zu finanzieren, zapfen die Kassen derzeit nicht nur die Renten der Erwerbstätigen an – wie die Rechte gerne betont, um die Jungen davon zu überzeugen, dass der Umwandlungssatz gesenkt werden muss. Sie senken auch den nicht staatlich garantierten Umwandlungssatz bei den überobligatorischen Ersparnissen, die eher Reicheren gehören. Würde nun der reglementierte Mindestumwandlungssatz gesenkt, erhielten zwar alle auf ihre obligatorischen Ersparnisse weniger Rente. Reichere erhielten jedoch auf ihren überobligatorischen Teil wieder mehr, da die Kassen den Umwandlungssatz darauf wieder erhöhen könnten.
Allerdings will der Bundesrat der Umverteilung nach oben auch entgegenwirken. Er folgte damit einem Kompromiss zwischen Arbeitgeberverband und Gewerkschaften. Unter anderem will er den Koordinationsabzug halbieren, der bestimmt, ab welcher Schwelle ein Lohn obligatorisch versichert ist. Sinkt er, profitieren davon vor allem Leute mit tieferen Löhnen und Teilpensen. Vor allem aber will er die Senkung des Umwandlungssatzes mit einem Rentenzuschlag kompensieren. Das würde Leute mit tieferen Einkommen gegenüber der heutigen Situation etwas besserstellen. Von den beiden Massnahmen würden vor allem Frauen profitieren. Bezahlt würde der Zuschlag mit einem halben Lohnprozent der heutigen Beschäftigten. Aus diesen Gründen sagen SP und Grüne trotz allem Ja zum vorliegenden Kompromiss.
Für das Geld, gegen die Realität
Die Bürgerlichen signalisieren von SVP bis GLP jedoch Ablehnung. Die SVP sprach sich bereits im Sommer gegen den Kompromiss der Sozialpartner aus. Kürzlich hat sich nun auch die FDP-Fraktion an einer Klausur dagegen entschieden, letztes Wochenende folgte die Mittefraktion aus CVP, EVP und BDP; und auf Nachfrage positioniert sich auch die GLP rechts des Arbeitgeberverbands. Bekämpft wird vor allem der Rentenzuschlag. Die Bürgerlichen möchten, dass die Renten in erster Linie mit höheren Beiträgen an die zweite Säule gesichert werden. Einen Rentenzuschlag soll es höchstens für eine Übergangsgeneration geben, die keine Zeit mehr hat, genug zu sparen. Zweitens sind die Bürgerlichen gegenüber einer Finanzierung über Lohnbeiträge skeptisch bis ablehnend.
Mit der Forderung zusätzlicher Beiträge für die zweite Säule folgen sie der mächtigen Finanzlobby. Der Pensionskassenverband (Asip) hat dies bereits in einem eigenen Reformmodell vor einem Jahr gefordert. Mit der Verwaltung der rund 1000 Milliarden Franken, die in der zweiten Säule stecken, verdienen die Pensionskassen, aber auch Banken, Anlageberater und andere Finanzdienstleister gemäss Zahlen des Bundes jährlich satte 5 Milliarden Franken – ein Riesengeschäft. Die Finanzlobby ist unter der Bundeshauskuppel gut vertreten: Es ist eine Minderheit unter den Bürgerlichen, die nicht irgendein entsprechendes Mandat vertritt.
Mit ihrem Nein verteidigen die Bürgerlichen aber auch die Pfründe der Wohlhabenden: Die Finanzierung des Rentenzuschlags durch ein halbes Lohnprozent der Beschäftigten würde Leute mit hohem Einkommen stärker belasten. Auch wenn die zunehmenden Investitionen in Immobilien, die unterschiedliche Lebenserwartung und die Senkung des Umwandlungssatzes eine riesige Umverteilung von Arm zu Reich bedeuten: Eine solche Solidarität will man explizit nicht.
Das vielleicht grösste Problem haben die Bürgerlichen aber mit dem im Reformplan impliziten Eingeständnis, dass die zweite Säule im Zeitalter der Minuszinsen zum Sterben verurteilt ist. Und dass die Finanzierung der Renten über die Einkommen der heutigen Erwerbstätigen, wie sie auch die AHV kennt, dem Alterssparen überlegen ist. Ganz abgesehen davon, dass die Verwaltungskosten der AHV mit 200 Millionen Franken rund 25 Mal tiefer liegen als die der zweiten Säule.
Und: Wie weltfremd ist es eigentlich, in der heute kapitalübersättigten Weltwirtschaft höhere Beiträge an die zweite Säule zu verlangen? Vielleicht muss nochmals eine Reform scheitern und etwas mehr Zeit vergehen – bis die Realität nicht mehr zu leugnen ist.