Ernesto Cardenal (1925–2020): Der alte Mann und der See
Mit Ernesto Cardenal ist ein grosser Revolutionär, Befreiungstheologe und Dichter gestorben, der die Geschichte Nicaraguas geprägt hat.
Seinen legendären Zorn bekam ich nie zu spüren. Auch nicht in der völlig überfrachteten Juniwoche des Jahres 1983, als ich ihn als Übersetzer an Treffen, Anlässe und Kundgebungen begleitete. Nur einmal drohte er die Geduld zu verlieren. Es war eine Zusammenkunft mit Mitgliedern der SP-Fraktion im Berner Volkshaus. Nach Fragen, die wenig mit der Wirklichkeit des ärmsten Landes Lateinamerikas zu tun hatten, fragte er mich sichtlich verärgert: «Bin ich der Kulturminister der Schweiz oder Nicaraguas?»
Der sandinistische Priester Ernesto Cardenal hatte mit seinem jüngeren Bruder Fernando, einem Jesuitenpater – später wurde er Erziehungsminister Nicaraguas –, in den Vorjahren eine der eindrücklichsten Alphabetisierungskampagnen der Bildungsgeschichte durchgeführt. Die beiden stammten aus einer wohlhabenden Familie in der bürgerlichsten Stadt des Landes: Granada. Ernesto wurde 1925, Fernando 1934 geboren. Der Verleger Pedro Joaquín Chamorro, dessen Ermordung 1978 den Aufstand gegen den Diktator Anastasio Somoza beschleunigte, war ihr Cousin.
Ode an Marilyn Monroe
Ernesto Cardenal war Revolutionär und Geistlicher, vor allem aber Dichter. 2007 wurde er für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen. Zu seinen schönsten Gedichten gehört die «Oración por Marilyn Monroe», aus der zwei Ausschnitte zitiert seien: «Doch Du kennst ihren Namen, den Namen des Waisenkindes / das vergewaltigt wurde mit 9 Jahren / den Namen der kleinen Verkäuferin, die mit 16 versuchte / ihrem Leben ein Ende zu machen (…) Sie hungerte nach Liebe, und wir boten ihr Beruhigungsmittel.» Sein letztes Gedicht veröffentlichte er im Alter von 94 Jahren. Der Titel lautet – ganz im Sinne des grossen Werks «Cántico cósmico» (Gesänge des Universums, 1995) – «Hijos de las estrellas» (Kinder der Sterne).
Im Jahr 1965, in dem auch der Band mit dem Gebet für Marilyn Monroe herauskam, erhielt der welt- und sprachgewandte Befreiungstheologe die Priesterweihe. Kurz danach gründete Cardenal auf dem Solentiname-Archipel des Grossen Sees von Nicaragua eine nach urchristlichen Vorstellungen ausgerichtete Kommune mit Bauern, Fischerinnen und Handwerkern. Es war nicht seine erste politische Aktion. Bereits 1954 hatte er an der April-Revolution gegen Somoza teilgenommen und sich danach in ein US-amerikanisches Kloster zurückgezogen. Auf Solentiname schrieb er 1975 sein berühmtestes Buch: «Das Evangelium der Bauern». Zwei Jahre später wurden die Gebäude der Kommune von Somozas Soldateska zerstört. Cardenal ging nach Costa Rica ins Exil und schloss sich dort der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) an.
Nach dem Sieg der Revolution im Juli 1979 avancierte Cardenal zum Kulturminister Nicaraguas, was er bis 1987 blieb. 1980 wurde ihm der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen. Schlechter kam der Geistliche bei einem Vatikan an, der sich zuvor mit allen Faschismen aller Kontinente eingelassen hatte. Am 5. März 1983 kam es auf dem Flughafen Managua zu einer Begegnung, von der eine Fotografie existiert, die den autoritär-reaktionären Charakter von Papst Johannes Paul II. für alle Ewigkeit festhält: Am Boden kniet in aller Demut der rebellische Priester, und über ihm steht mit einem Zeigefinger, der aussieht wie ein gezücktes Messer, der Unfehlbare aus Rom. Ein Jahr später wurden die beiden Cardenal-Brüder und weitere Befreiungstheologen von einer Kirche, deren rechteste Kleriker sich kurz zuvor an der Ermordung von 30 000 argentinischen Linken beteiligt hatten, von ihren Ämtern suspendiert. Erst Papst Franziskus liess Fernando 2014 und Ernesto 2019 wieder zum Priesteramt zu.
Nachdem Ernesto Cardenal den Kampf gegen die Diktatur überlebt und jenen gegen den Vatikan überstanden hatte, stand ihm der schwierigste bevor: der Kampf gegen das sandinistische Ehepaar Daniel Ortega und Rosario Murillo. Diesem war es nach der Wahlniederlage 1990 gelungen, die Herrschaft über die Partei zu erlangen. Cardenal und andere verliessen 1994 den FSLN, um das Movimiento de Renovación Sandinista (MRS) zu gründen. Als Ortega und Murillo 2007 die Macht im Staat übernahmen, wurde Cardenal zu einem ihrer schärfsten Kritiker. 2018 warf er ihnen vor, «sich das ganze Land angeeignet» zu haben, «Justiz, Polizei und Militär eingeschlossen». Die «neue Diktatur», wie er sie nannte, verfolgte ihn mit Prozessen, horrenden Bussen, Haftbefehlen und mit der Schliessung seines Kulturzentrums auf dem Solentiname-Archipel.
Gegen den Plan des Pharaos
Was aber den Zorn des alten Mannes am meisten erregte, war Ortegas pharaonischer Plan, zwischen Atlantik und Pazifik einen Kanal zu bauen: Ein solcher würde den Tod des Grossen Sees bedeuten. Im Juni 1983 hatte Ernesto in einem Interview, das ich mit ihm für die «bresche» führte, dessen Bedeutung «im Herzen Nicaraguas» betont: «Wir halten – trotz des Krieges mit den USA – am Projekt fest, den stark verseuchten See zu retten, bevor er stirbt.» Wer Ernesto Cardenal die letzte Ehre erweisen möchte, sollte sich für dessen See einsetzen und das, was er symbolisiert: die Freiheit Nicaraguas.
Jo Lang ist Historiker und grün-alternativer Altnationalrat.