Krisenmanagement in Frankreich: Macron plötzlich Antikapitalist?
24 Stunden nach den Gemeindewahlen kommt die Ausgangssperre. Und Emmanuel Macron, verschrien als Präsident der Superreichen, ruft nun plötzlich nach dem starken Sozialstaat. Wie geht Politik in Zeiten des Virus?
«Nous sommes en guerre», wir sind im Krieg – das war der Satz, mit dem Präsident Emmanuel Macron am Montagabend auch den letzten FranzösInnen einzubläuen versuchte, was das Gebot der Stunde ist: zu Hause bleiben!
Tags zuvor hatte es in Paris ausgesehen wie an einem normalen sonnigen Frühlingstag: Überall sassen Menschen zusammen, an den Ufern der Seine, in Parks und Cafés. Sie strömten auf Märkte und Spielplätze, sie machten das, wofür sie weltweit beneidet werden: Savoir-vivre und Laisser-faire. Vielleicht waren sie auch deshalb so unbesorgt, weil ihr Präsident sie noch drei Tage zuvor gebeten hatte, an die Urnen zu gehen, mit dem Versprechen, es stehe alles bereit, um die erste Runde der Kommunalwahlen unter strengen Hygienevorschriften abzuhalten. Es sei – trotz der Umstände – die republikanische Pflicht eines jeden Citoyen, einer jeden Citoyenne, wählen zu gehen. Tatsächlich trugen am Sonntag die WahlhelferInnen Masken, es gab reichlich Desinfektionsmittel auf die Hände, und immer wieder wurde in den Wahlkabinen gesprüht und gewischt. «Die Leute halten sich an die Vorgaben, aber manche finden unsere Massnahmen im Grunde genommen lächerlich, wenn da draussen alle aufeinander hocken», sagte ein Wahlhelfer in einer Schule im 11. Arrondissement.
Die Bilder der offenbar sorglosen Bevölkerung in Frankreich gingen um die Welt. Im chinesischen wie im italienischen Fernsehen gab es Unverständnis, ja Empörung über Wahlen in Zeiten des Virus. Und so wurden einerseits in den französischen Medien die Ergebnisse analysiert, die Erfolge der Grünen hervorgehoben, gab es Porträts von BürgermeisterInnen, die bereits in der ersten Wahlrunde die absolute Mehrheit holten (darunter einige KandidatInnen des rechtsextremen Rassemblement National). Gleichzeitig wurde die Frage gestellt, wie repräsentativ die Ergebnisse bei nur 45 Prozent Wahlbeteiligung überhaupt seien und wie es nun weitergehe. 24 Stunden später war klar: Es geht nicht weiter. Aber nicht nur das. Der französische Präsident machte am Montagabend das, was französische Präsidenten in Krisenzeiten tun: keine nüchterne Einschätzung à la Angela Merkel, sondern eindringliche Appelle, grosse Worte, demonstrative Führungsstärke und am Ende das obligate «Vive la République, vive la France!».
Als wären Sommerferien
Am Morgen danach hat man den Eindruck, viele FranzösInnen würden wie im Juli in die grossen Ferien aufbrechen. Staus rund um die Hauptstadt, Andrang auf Bahntickets, wer irgendwo ein Landhaus hat, zieht sich zurück, nicht ohne vorher ein paar Flaschen Wein einzukaufen und nach einem Abstecher in die Apotheke. In den sozialen Medien lancieren die Leute Initiativen, bieten Hilfe an und teilen den Aufruf, zu Hause zu bleiben. Daneben jede Menge humorvolle Kommentare, Fotos, Memes und viel Häme gegenüber dem Präsidenten, der plötzlich sein sozialistisches Herz entdeckt habe. Tatsächlich: Die politische Dimension des Krisenmanagements von Macron überrascht. Denn neben den Einschränkungen des öffentlichen Lebens, der Ausgangssperre und der Mobilisierung des Militärs klingt noch etwas anderes durch: die Abkehr von der Doktrin, dass der Markt alles regeln wird.
Schon in der ersten grossen Fernsehansprache vergangene Woche hatten sich viele verwundert die Augen gerieben, als Macron verkündete: «Morgen müssen wir die Lehren ziehen aus dem, was wir gegenwärtig durchmachen, das Entwicklungsmodell hinterfragen, in das sich unsere Welt seit Jahrzehnten verwickelt hat und dessen Mängel nun ans Licht kommen, die Schwächen unserer Demokratien hinterfragen. Eines hat sich durch diese Pandemie schon jetzt herausgestellt: Die kostenlose Gesundheitsversorgung, unabhängig von Einkommen, Stellung und Beruf, unser Sozialstaat sind keine Kosten oder Lasten, sondern wertvolle Güter, unverzichtbare Trümpfe, wenn das Schicksal zuschlägt. Diese Pandemie hat jetzt schon deutlich gemacht, dass es Güter und Dienstleistungen gibt, die ausserhalb der Marktgesetze gestellt werden müssen.» Und weiter: «Die kommenden Wochen und Monate werden Entscheidungen erfordern, die in diesem Sinne einen Bruch darstellen. Ich werde die Sache in die Hand nehmen.»
Am Montag ging der Präsident noch einen Schritt weiter: Alle Reformen, allen voran die des Rentensystems, seien ausgesetzt. Jedem Franzosen, jeder Französin sicherte er finanzielle Unterstützung zu, damit keineR durch die Krise den Job verlieren oder Engpässe erleiden werde – sei es bei der Strom- oder der Gasversorgung. Selbst die Mieten können ausgesetzt werden. Unternehmen, Selbstständige, wer immer nach dem Staat rufe, solle gehört werden. In der Quarantäne sei überdies Zeit, sich auf die Bedeutung von Bildung und Kultur zu besinnen. Gerade in diesen beiden Bereichen gab es noch vor kurzem einen Aufschrei über den Aderlass, über Kürzungen, fehlende Investitionen. Und nun soll sich das alles ändern?
Macrons Ankündigungen sind auch ein Wegweiser für Europa. Er, der Superreformer, den die Gelbwesten als Präsidenten der Superreichen schelten, ruft nun nach einem starken Staat. Adieu Schuldenbremse und Austeritätspolitik. Erfüllte Macron in der ersten Hälfte seiner Amtszeit noch mehr als jeder rechte Politiker die geheimsten Reformwünsche der Konservativen, lesen sich seine nun verkündeten wirtschaftlichen und politischen Forderungen fast wie das Programm des linksradikalen Nouveau Parti Anticapitaliste. Und Macron zu kritisieren, ist derzeit riskant. Als die konservative Politikerin Nadine Morano am Sonntag in der Wahlsendung nicht mit Kritik an der Regierung sparte, wurde sie sogar von einem eingeladenen Virologen zurechtgewiesen, der ihr Verantwortungslosigkeit vorwarf.
Schwanken, aber nicht untergehen
Die Wahlergebnisse sind zu einem Randthema geworden oder wurden mit der Frage verknüpft, wie sich darin die Coronakrise widerspiegelt. So liegt in Paris die amtierende Bürgermeisterin, Anne Hidalgo, deutlich vorn. Sie hatte sich in den letzten sechs Jahren schon oft als Krisenmanagerin bewährt: nach den Anschlägen auf «Charlie Hebdo» und einen jüdischen Supermarkt im Januar 2015, nach der Terrornacht vom 13. November wenige Monate später mit über 130 Toten, nach zwei bedeutenden Überschwemmungen, mehreren Hitzewellen und schliesslich dem Brand der Kathedrale Notre-Dame. Immer eilte die Sozialdemokratin sofort an die Orte des Geschehens, fand tröstende Worte, behielt die Contenance, verfiel weder in Panik noch in vorschnelle Schlussfolgerungen. Das klingt nach der Devise, die schon auf das mittelalterliche Wappen der Stadt eingeschrieben war: «Fluctuat nec mergitur» (Sie schwankt, aber sie geht nicht unter).
Und gerade weil im zentralistischen Frankreich alles in Paris entschieden und gemanagt wird, kommt Hidalgo in diesen Tagen wieder eine wichtige Rolle zu. Vielleicht passt zu Macrons neuer Doktrin auch, dass Hidalgo schon lange vor dem Ausverkauf der Stadt warnte. Ob Uber oder Airbnb, es ging ihr darum, das Leben in einer der teuersten Metropolen der Welt auch noch für jene erschwinglich zu halten, die hier arbeiten. Touristinnen und ausländischen Spekulanten müsse man härter begegnen. Nun wird es darüber hinaus viel um das Gesundheitssystem gehen, um die Versorgung der Pariser Krankenhäuser.
Wenn es Macron mit seinen Ankündigungen ernst meint, muss er damit rechnen, dass ihn eine Politikerin wie Anne Hidalgo, wenn der Höhepunkt der Krise überwunden ist, an seine Versprechen erinnern wird. Doch wer denkt heute schon an das ungewisse Morgen? Wie es politisch mit Frankreich weitergeht und wie viel vom Linksschwenk Macrons übrig bleibt, werden wir erst sagen können, wenn die Zwangspause vorbei ist. Jetzt aber geht erst einmal nichts mehr – rien ne va plus.